Schwarzer Peter: Manuela Jeker und Michel Steiner im Gespräch

Michel Steiner und Manuela Jeker erwarten uns am Montagmorgen gegen zehn Uhr, als wir – nach einem Kaffee vis-à-vis – beim Schwarzen Peter eintreffen. Für ein Gespräch über ihr Wirken als Sozialarbeiter haben wir uns verabredet. Die Beratung und das daran angrenzende autonome Büro im südlichen St. Johann sind für Klienten zu dieser Uhrzeit noch geschlossen. Wir nutzen die Gunst der Stunde und finden heraus, was #Lifeisstreet wirklich bedeutet.


Michel und Manuela, wer seid ihr und was macht der Schwarze Peter?
Michel: Ich arbeite seit neun Jahren beim Schwarzen Peter als Gassenarbeiter. Der Verein wurde 1983 gegründet – vor einem drittel Jahrhundert war das. Unsere Hauptaufgabe ist die Aufsuchende Soziale Arbeit im öffentlich zugänglichen Raum. Das heisst, wir gehen auf die Strasse und knüpfen da Kontakte mit den Leuten, anstatt zu warten, bis die Leute zu uns finden. Letzteres ist der zweite Teil unserer Arbeit. Wir bieten zweimal pro Woche eine offene Sprechstunde an und jeder darf da mit all seinen Anliegen vorbeikommen. Oft zeigt sich, dass nicht wir die richtigen sind. Der Schwarze Peter erfüllt in solchen Fällen eher eine Vermittlungsfunktion. Das nennen wir Triage. Das dritte Standbein sind verschiedene Aktionen und Projekte. Wir machen ein Grillfest oder organisieren ein Kleidersammeln und -verteilen. Ich denke gerade an Isomatten und Schlafsäcke für den Winter. Unsere vierte Aufgabe ist die Öffentlichkeitsarbeit und die politische Arbeit – die Kommunikation nach Aussen. Diese ist besonders wichtig, da es nicht ausreicht, den einzelnen Menschen zu helfen. An gewissen Situationen können wir gar nichts ändern und da ist es wichtig, dass wir das gesellschaftlich publizieren können und auch dafür einstehen.
Manuela: Ich bin Manuela und arbeite seit sechs Jahren beim Schwarzen Peter. Seit drei Jahren bin ich als Gassenarbeiterin und in der Co-Geschäftsleitung tätig. Wir sind ein egalitäres Team aus sechs Personen, dabei ist jeder verantwortlich für ein bestimmtes Ressort. Michel kümmert sich um unsere Finanzierung und ich bin verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit.




Was liegt dem Schwarzen Peter für ein Verständnis von Armut zugrunde?
Der Name erinnert an das Kartenspiel, bei dem man den Schwarzen Peter ungewollt zieht und ihn natürlich sofort wieder loswerden will.
Michel: Im Spiel willst du den Schwarzen Peter immer rasch loswerden. Viele wollen unsere Klienten nun mal immer loswerden. Wir nicht. Wir nehmen auch den Schwarzen Peter, wir schieben die Leute eben nicht weiter. Das ist meine persönliche Interpretation.
Manuela: Auf der anderen Seite haben auch unsere Klienten den Schwarzen Peter gezogen. Es ist also eine gewisse Doppeldeutigkeit darin verborgen. Zu Beginn der Geschichte unserer Institution mussten die Gassenarbeiter vielen illegalen Tätigkeiten nachgehen und gegen grosse Windmühlen kämpfen. Dies hat sich gewandelt und wir sind heute als Institution etabliert. Es gibt Leute welche sich stark ab dem Namen Schwarzer Peter entrüsten. Ich denke, das ist ein Stück weit Verdrängung. Es darf ja nicht sein, diese Armut, die darf es ja nicht geben. Zu unserem Verständnis von Armut: Das Spektrum der Betroffenen wird breiter. Vor sechs Jahren zählten vor allem Süchtige und Leute in einem psychisch instabilen Zustand zu unseren Klienten. Heute gibt es vermehrt auch Leute, die eine eigene Firma hatten oder die anderswie in die Armut gerutscht sind. Überdies betreuen wir insgesamt mehr Leute.
Michel: Viel mehr Leute. Auf der Strasse ist es etwa gleich geblieben, hier in der Beratung hat es sich verdreifacht. Es kommen viel mehr Leute hierher, die vor ein paar Jahren noch nicht zu uns gekommen sind.



Die Aufsuchende Soziale Arbeit ist eure Leitidee. Was versteht ihr darunter?
Michel: Wir arbeiten mit zwei Methoden. Das eine ist, dass wir gezielt an Orte gehen, wo Leute sind, die wir kennen. Wir pflegen Beziehungen beim Claraplatz oder auf der Claramatte oder vor dem Hauptbahnhof. Das sind sogenannte Hotspots. Wir besuchen diese mehrmals wöchentlich. Daneben gibt es die Seismografie, so nennen wir die zweite Methode. Dabei nehmen wir den öffentlichen Raum wahr ohne einzugreifen. Man sieht wo es viele Leute hat, man entdeckt Konsumspuren. Wir stellen vielleicht fest, dass Bänke abgeschraubt wurden. Früher waren sie noch bequem, jetzt hat es plötzlich Sitzbänke, welche bewusst schräg gestaltet sind, also die Wahrnehmung des öffentlichen Raumes. Im Unterschied zur ersten Variante – wir werden da immer ein Stück weit als Eindringlinge wahrgenommen – ist der Umstand in der zweiten Variante freier.
Manuela: Wobei wir uns niemals aufdrängen. Wenn wir zum Claraplatz gehen und feststellen, dass gewisse Personen uns gar nicht sehen wollen, dann lassen wir diese Leute in Ruhe. Der öffentliche Raum ist für Menschen, welche auf der Strasse leben, ihr Aufenthaltsraum, ihr Wohnzimmer.


Ihr sagt es gibt mehr Leute in der Beratung und gleich viele auf der Strasse. Ist das eine positive Entwicklung?
Michel: Ja und nein. Es nimmt uns auch Zeit weg um rauszugehen. Wir müssen heute aufpassen, dass wir genug Zeit finden, um auf die Strasse zu gehen.
Manuela: Toll ist, dass die Leute hierher kommen. Blöde ist, dass das Spektrum breiter wird. Leute, für die Armut ungewohnt ist, sind oft damit überfordert. Sie schämen sich. In solchen Situationen eine Lösung zu finden, ist oft ganz schwierig.




Ihr kommentiert teilweise öffentliche Situationen – häufig sehr direkt und manchmal auch etwas frech – etwa in eurem Printmagazin PETER oder auf Facebook. Gleichzeitig setzt ihr euch regelmässig mit verantwortlichen Politikern dieser Stadt zusammen. Wie gehen diese beiden Dinge einher?
Michel: Einerseits ist der Schwarzer Peter seit einem drittel Jahrhundert unterwegs und hatte immer ein wenig diese Rolle. Angefangen hat es im autonomen Jugendzentrum. Dort hat man die Aufsuchende Sozialarbeit ausprobiert. Einige Jahre später, anfangs-mitte der 80er Jahren gab es hier in Basel die offene Drogenszene, da hatte der Schwarze Peter eine ganz wichtige Rolle. Wir haben Spritzen verteilt, was damals noch verboten war und auf einen runden Tisch für verschiedene Interessenvertreter hingearbeitet. Daraus ist die heutige Viersäulen-Drogenpolitik gewachsen. Der Schwarze Peter hat sich immer klar und deutlich eingesetzt. Um deine Frage zu beantworten: Dass wir solche Dinge ansprechen können, ist einerseits das gewachsene Vertrauen. Die Leute wissen, dass wir gute Arbeit machen und dass wir nicht einfach reklamieren. Andererseits wird von uns erwartet, dass wir mitteilen, was wir da draussen sehen. Wenn das frech klingt, dann hat das damit zu tun, dass ich weiss, dass die Leute wissen, dass ich gute Arbeit leiste. Ein heikles Thema ist ja, dass wir von Stiftungen und Spenden abhängig sind. Viele Organisationen machen in dieser Situation den Mund wenig oder gar nicht auf. Das erleben wir gar nicht so.

Leute ohne Zuhause können bei euch vorübergehend eine Postanschrift erhalten.
Manuela: Im Moment sind bei uns circa 400 Leute angemeldet. Deren ganze Post kommt zu uns. Jemand von uns sortiert diese Briefe, damit unsere Klienten ihre Post abholen können. Diese Adressen brauchen unsere Kunden aber auch, damit Sie im System der Sozialhilfe und der Krankenkassen erfasst sind.
Michel: Wenn jemand nicht mehr auf dieser Liste steht, ist es in den seltensten Fällen weil diese Person eine Wohnung gefunden hat. Häufig kommt es daher, dass sie einige Wochen lang versifft hat, ihre Post zu holen. Wir müssen jede Woche mehrere Leute rausschmeissen und abmelden. Zum Teil kommen Sie wieder und das ist okay. Es gibt auch Leute die einmal kommen und dann nie mehr. Da erleben wir viele Leerläufe. Jede Woche kommen aber auch zwei, drei Leute vorbei, die uns sagen, dass sie eine Wohnung gefunden haben und deshalb die Adresse nicht mehr brauchen. Im Durchschnitt haben die Leute ein Postfach etwa ein halbes Jahr.




Von eurer Arbeit zu eurer Chemie: Wisst ihr, wie ihr beide als Team funktioniert?
Manuela: Ich finde wir sind ein gutes Team. Auch in einer Co-Geschäftsleitung ticken nicht alle Leute gleich. Ausgewogen bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, beide machen das gleiche, sondern jeder lebt seine Rolle.
Michel: Ich bin vom Typ her sicher mehr als Alphatier unterwegs. Die Chefrolle läuft bei mir einfach automatisch ab. Das ist manchmal anstrengend für die anderen, manchmal ist man aber auch froh darum, dass jemand diese Rolle einnimmt. Ich versuche mich zurückzunehmen. Ich wünsche mir, dass Manuela dominanter ist zwischendurch. Es gibt Situationen, wo ich den Lead übergebe. Wenn das gelingt, ist das sehr angenehm.


Wer von euch beiden ist lustiger?
Manuela: Michel ist sehr witzig.
Michel: Haha. Klassische Witze erzählen kann ich nicht. Aber ich bin schon humorvoll.



In der Sozialarbeit ist Abgrenzung ein wichtiges Thema. Wie grenzt ihr euch ab?
Michel: Abgrenzen? Begegnungen machen unsere Arbeit schön. Viele Menschen sind eine Bereicherung.
Manuela: Im Grunde genommen schätzen wir ab, ob eine professionelle Beratung möglich und notwendig ist. Können wir keine sinnvolle Unterstützung leisten, so gehen wir weiter. Das hat nichts damit zu tun, Leute abzuschneiden, es gibt einfach Momente wo wir nicht helfen können.
Michel: Genau, wenn mich Leute nur noch konsumieren, wenn sie mir zum zehnten Mal das Gleiche erzählen oder sehr stark betrunken sind und nur noch quasseln, dann gehe ich weiter. Andererseits habe ich echte Freundschaften mit vielen unserer Klienten. Ich sehe das nicht als Abgrenzungsproblem, ich finde das ist natürlich. In Sozikreisen und in Ausbildungen wird dies kritisch betrachtet und als Tabu erkannt. Ich denke aber, dass man offen und reflektiert mit solchen Situation umgehen muss. Trotzdem ist die Psychohygiene wichtig, wir müssen aufpassen, dass wir nicht in den Geschichten dieser Leute hängen bleiben. Gleichzeitig muss man aufpassen, dass man sich nicht zu stark abgrenzt. Es gibt viele Leute die das Vertrauen zu uns haben, weil sie merken, dass wir Menschen sind und nicht nur abgeschottet hinter dem Bürotisch sitzen.
Manuela: Es geht darum, ein würdevolles Leben zu führen. Wir schauen wo eine Person steht und was für diese Person wichtig ist. Manchmal ist gar nicht deren Zeit um aufzuhören mit Drogen. Je nachdem braucht es ganz etwas Anderes. An eine Person zu treten, ohne alles zu Bewerten ist eine Entlastung für beide Seiten.


Gibt es Dinge, die euch nerven bei der Arbeit?
Manuela: Mir geht momentan nichts auf die Nerven.
Michel: 400 Postfächer zu haben finde ich echt nervig. Günstige Wohnungen fehlen. Federführend wäre hierbei der Kanton. Aber es fehlt in erster Linie am politischen Willen. Man kann die Lösung dieses Problems nicht von einzelnen Liegenschaftsverwaltungen erwarten. Die Gesellschaft als ganzes müsste hier klar vorwärts machen. Das ist das eine. Das andere, was für mich sehr anstrengend ist, ist fortwährend dem Geld nachzulaufen. Da musst du Briefe schreiben, Gesuche stellen. Ein tolles Heft machen. Damit die Leute bei den Stiftungen denken: „Ja doch, dem Schwarzen Peter geben wir 10'000, 20'000 Franken.“ Das ist der Teil meines Jobs, auf den ich verzichten könnte. Das ist mein Ressort und das mache ich sehr gut, aber das ist nicht lustig und am Ende des Jahres ist es immer eine knappe Sache. Es zieht Aufmerksamkeit und Energie auf sich, die wir bei unserer Arbeit brauchen könnten.



Welche Band hört ihr hier im Büro?
Manuela: Les Délicieuse ist eine tolle Band aus Basel, die hören wir gerne. Sie spielen Chanson-Punk. Ihre Musik hören wir immer am Morgen vor der Sitzung.
Michel: Naja. Wir hören hier vor allem ABBA. Schwarzer Peter ist ABBA. Und das Lieblingslied von Manuela ist (singt) DES-PA-SITO.


Wie wärs mal mit?
Manuela: Zahlbarem Wohnraum für alle.
Michel: Mit einem Betriebsausflug nach Hamburg.




Wir bedanken uns bei Michel und Manuela für das offene Gespräch und den Einblick in ein Vielen unbekanntes Basel. Wir wünschen dem Schwarzen Peter viele herzliche Begegnungen auf der Strasse und im autonomen Büro.


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von Timon Sutter
am 09.10.2017

Fotos
Caroline Hancox für Wie wär’s mal mit

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