Anna Erhard: Im Gespräch mit der Musikerin und Wahlberlinerin
Luzern. Kurz nach Mittag. Der Himmel ist bewölkt. Winterluft liegt in den Strassen. Wir treffen Musikerin Anna Erhard für ein Gespräch. Die gebürtige Churerin erzählt von der Produktion ihres damals noch unveröffentlichten Albums «Short Cut», über ihr Leben als Wahlberlinerin und vom Start ihrer Solokarriere. 


Hallo Anna. Danke, dass du dir die Zeit nimmst für unser Gespräch. Ende Februar 2021 erscheint dein Debütalbum als Solokünstlerin. Wie heisst das neue Album?
Es trägt den Titel «Short Cut», wie der gleichnamige Song, der bereits ausgekoppelt wurde. Das Album erschien am 26. Februar 2021.

Zum Song «Short Cut»  gibt es ein Musikvideo. Unter anderem sieht man eine ältere Frau, die sich mit Streichen frecher Kinder herumschlägt. Was hat es mit dieser Frau auf sich?
Wir wollten den Song «Short Cut» im Video umsetzen. Im höheren Alter sind wir auf eine Art und Weise wieder in einer ähnlichen Phase, wie wir es als Kinder waren. Dazwischen ist eine lange Zeit, in der wir viel arbeiten. Im Musikvideo gehe ich von der Kindesphase direkt in die Rentner*innenphase über. Unser Wunsch, immer nach Abkürzungen zu suchen, weil wir uns instinktiv weigern, durch schwierige und dunkle Phasen hindurchzugehen, ist auch ein Thema des Albums. Angebliche Abkürzungen werden uns an jeder Ecke angeboten. Für den Videodreh waren wir in Furna. Wir haben ein Kind angefragt, welches mir ziemlich ähnlich sah. Leider hatte es grosse Angst, alleine im Video mitzuspielen. Deshalb haben wir viele andere Kids dazu genommen. Schliesslich wurde es eine zweitägige Party mit diesen Kids.



Bevor du dein musikalisches Soloprojekt gestartet hast, warst du mit «Serafyn» – eurer damaligen Band – erfolgreich unterwegs. Daraus sind für dich wertvolle Möglichkeiten entstanden, auf denen du heute aufbaust.
Ja genau. Mit «Serafyn» konnten wir viele Konzerte spielen und wir durften mit Profis aus der Musikbranche zusammen arbeiten. Sie haben einen Teil derjenigen Arbeiten übernommen, welche das Musikgeschäft mit sich bringt. Dies hat uns erlaubt, uns gänzlich auf das Musikmachen zu konzentrieren. Und dieses Umfeld ist geblieben; ich arbeite noch immer mit denselben Leuten zusammen. 

Zur Zeit geht es für dich ohne «Serafyn» weiter. Du bringst dein erstes Soloalbum heraus. Welchen Stellenwert hat es für dich, dass du Musikerin bist?
Es hat für mich momentan den obersten Stellenwert. Aufgrund dessen habe ich in den letzten drei Jahren grundlegende Entscheidungen getroffen. Ich habe realisiert, dass ich bereit war, diesen Weg zu gehen und dafür auf andere Wege zu verzichten. Weil es mir so wichtig ist, bin ich auch nach Berlin gezogen. Musik zu machen ist das, was mich antreibt. Die Motivation ist auch in diesem von der Pandemie geprägten Jahr geblieben, obwohl ich nur wenig Konzerte gespielt habe. Die letzten zwei Jahre bin ich nahezu wöchentlich ins Studio gegangen. Ich habe dabei eine Routine bekommen.


Wie sieht deine Studioroutine aus?
Da muss ich etwas zurückgreifen. Mit «Serafyn» haben wir unsere Songs vor den Aufnahmen jeweils sehr fein ausgearbeitet. Damit sind wir dann für eine Woche ins Studio gegangen und haben die Songs aufgenommen. Die Aufnahmewoche war entsprechend klar strukturiert – was muss bis wann aufgenommen sein –, weil die Studiozeit sehr kostbar ist. Meine jetzige Routine ist ganz anders. Pola, mein Produzent, und ich haben uns über die letzten zwei Jahre regelmässig getroffen und wir haben uns viel Zeit genommen für das Album.
Nun zur Studioroutine an sich: Am Morgen quatschen wir normalerweise lange. Dann hören wir uns an, was wir am letzten Tag aufgenommen haben. Danach bestellen wir etwas zu Essen und überlegen uns, was wir mit dem Tag anstellen wollen. Später probieren wir aus, was wir mit den Songs anstellen können, die ich zuvor geschrieben habe. Dann essen wir und bald ist der Tag auch schon fertig. Kurze Tage. 

Ihr scheint ein gutes Team zu sein. Kommt ihr bei der Produktion der Songs immer zuverlässig an den Punkt, an dem alles stimmig ist?
Ja, meiner Ansicht nach passt es gut. Teilweise braucht es seine Zeit, bis wir an diesen Punkt kommen. Für mich ist es ein Luxus, so viel Raum für Experimente zu haben und Pola dabei zu haben, der sich Zeit dafür nimmt und Lust darauf hat. Meistens schreibe ich einen Song auf der Gitarre. Pola spielt dann mit dem Schlagzeug dazu und wir überlegen uns, was noch fehlt. Beispielsweise luden wir für einen Song, der jetzt auf dem Album ist, einen Bassisten ins Studio ein. Dieser spielte den fehlenden Part ein. Wenn die Grundpfeiler stehen, experimentieren wir mit Overdubs: Mundharmonika, Flöten, Vocals, Bongos – dieser Teil nimmt unter Umständen noch einmal viel Zeit in Anspruch. Diese Art der Musikproduktion ist neu für mich. Im Vergleich: mit «Serafyn» hatten wir automatisch den ganzen Sound komplett, weil jedes Bandmitglied ein Instrument spielte.


Du wohnst zur Zeit in Berlin. Weshalb bist du nach Berlin gezogen?
Wir waren mit «Serafyn» in reduzierter Version auf Tour. Wir spielten für «Kat Frankie» Support. «Kat Frankie» kommen aus Berlin, sie hatten einen guten Drive, sie waren ansteckend motiviert. Weil sich nach und nach abzeichnete, dass es mit «Serafyn» nicht mehr so weitergehen sollte wie bis anhin, war ich auch nicht mehr an Basel gebunden. Gleichzeitig hatte ich Basel auch irgendwie satt. Im letzten Sommer habe ich bei der Wettsteinbrücke am Rhein gewohnt. Jeden Tag liess ich mich gelangweilt den Rhein hinunter treiben. Die Situation war perfekt und das hat mich gelangweilt. Deshalb habe ich entschieden, dass ich gehen musste. In Berlin ist alles anders geworden. Alles war neu. Gespräche mit vielen neuen Leuten. Ich ging neue Wege. Ich musste alles neu sortieren.

Als Schlagzeuger der Band «Wir Sind Helden» blickt dein Produzent Pola Roy auf vier sehr erfolgreiche Studioalben und eine beeindruckende Liveband zurück. Was bedeutet es für dich, dass du mit ihm als Produzent arbeitest? Nimmt er für dich eine Art Mentorenrolle ein?
Wir arbeiten schon eine ganze Weile zusammen. Wie eingangs erwähnt, haben wir bereits für die Aufnahmen von «Serafyn» mit Pola gearbeitet. Unsere Beziehung hat sich über diese Zeit entsprechend verändert und es hat sich eine Freundschaft entwickelt. Wir waren immer mal wieder zusammen frustriert und haben einiges durchgemacht. Pola hat beeindruckend viel Geduld und ein unerschütterliches Vertrauen darin, dass es sich lohnt, an einem Projekt dran zu bleiben. Und dies ohne dabei den Prozess zu bewerten. Auch dank ihm habe ich es geschafft, das Album fertigzustellen. Alleine wäre das für mich viel schwieriger gewesen. Wenn man ganz alleine ein Ziel verfolgt, ist es meines Erachtens viel schwieriger, dieses Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. In dem Sinne ist Pola auch ein Mentor für mich, da stimme ich dir zu.


Eingangs hast du mir erzählt, dass die Musik für dich an erster Stelle steht. An welchem Punkt deines Lebens hast du das realisiert? Wann ist für dich das Musizieren zur Arbeit geworden?
Nachdem wir mit der Band das zweite Album (Anm. d. Red.: das Album heisst «Foam») herausgebracht haben, haben wir etwas getourt. An diesem Punkt habe ich realisiert, dass wir von nun an sehr viel Zeit und Energie investieren müssten, um diesen Weg professionell zu verfolgen. Ich hole jetzt etwas aus. Stell dir die Entwicklung eines Menschen vor. Am Anfang bist du ein Kind, das Leben ist für dich spielerisch und du folgst deiner Intuition. In diesem Zustand findest du alles, was du brauchst. Du bist echt in dem was du tust. Etwas später, wenn du einige Jahre älter geworden bist, wirst du sehr kritisch mit dir selber. Du bist dir plötzlich deiner Selbst bewusst, deinem Handeln, deinem Auftreten und deinem Wirken auf andere. Es gibt Leute, die an diesem Punkt ihrer Kindheit und dem Spielerischen nachtrauern, weil damals alles viel einfacher war.

Eine Metapher für deine musikalische Entwicklung?
Ja. Bei der Musik war es für mich genau dasselbe. Als ich noch nicht darüber nachgedacht habe, welcher Text der schlauste ist, war das Texten viel einfacher. Ich konnte viel mehr schreiben. Aber das ist jetzt eben nicht mehr so. Und dann musst du akzeptieren, dass es nicht mehr so ist. Ich kann zwar immer noch auf eine spielerische Art Songs schreiben, aber ich habe auch schon etwas von der Welt gesehen. Und diese Erfahrung kann ich nicht einfach ausblenden. Und mit all diesen Selbstreflexionen muss man sich versöhnen und dadurch wieder davon loslassen. Jetzt zu deiner vorherigen Frage: Ab diesem Punkt hat sich das Musik machen für mich auch manchmal nach Arbeit angefühlt. Es war nicht mehr einfach nur Spass, sondern es tat auch einmal weh oder es war anstrengend.

Würdest du sagen, dieser Prozess des Aus-der-Unschuld-Hinaustretens ist auch mit «Serafyn» passiert?
Ja. Das war meines Erachtens der Punkt, an dem wir mit «Serafyn» auseinandergebrochen sind. Ich bin der Meinung, dass jeder von uns diesen Prozess anders wahrgenommen hat, jeder auf seine eigene Art. Für mich war dieser Schritt unausweichlich. Ich wollte oder konnte diese Entwicklung, die ich vorher beschrieben habe, nicht unterbinden. Zusätzlich kam hinzu, dass alle Bandmitglieder mit ihrem eigenen Leben konfrontiert waren. Ich hatte am meisten verfügbare Zeit und am meisten Lust, meine Zeit in meine eigene Musik zu investieren. Ich hatte die Möglichkeit, nach Berlin zu ziehen.


Dein Debütalbum wird von dem Label «Radicalis» veröffentlicht. Ihr wart schon mit «Serafyn» bei «Radicalis» unter Vertrag. Wie hast du es geschafft, dass dein Label hinter dem Entscheid gestanden ist, dass du solo weitermachst?
In der Band ist eine*r nach dem anderen gegangen. Gegen Schluss habe ich gemerkt, dass ich alleine weitermachen will. Diesen Wunsch konnte ich nicht mehr ignorieren. Ich wollte nicht in diesem Zwischending stecken bleiben aus dem, was übrig blieb und dem, was möglich wäre. Darum habe ich das Risiko auf mich genommen, dass das Label nicht mehr mitmacht – aber dem war nicht so. Diese Zeit war ziemlich dramatisch, zwar nicht mit dem Label, aber sonst.

Ihr habt ein Video zum Song «Cut it out» gedreht, in dem man dich als Reporterin durch die Strassen von Berlin ziehen sieht. Plötzlich brennt es auf einem Balkon und die Feuerwehr kommt.
Genau, das Video haben wir an Silvester gedreht, den brennenden Balkon haben wir zufälligerweise entdeckt, als wir durch die Strassen gezogen sind.


Welche künstlerischen Ansprüche hast du an deine Musik?
Mir ist der Inhalt meiner Songs wichtig. Den muss ich immer wieder neu kennenlernen und das ist jedes Mal viel Arbeit. Ich spreche vom inneren Prozess, der einem Song vorausgeht. Ich investiere einen grossen Teil meiner Zeit in diesen Aspekt des Songschreibens, ein Bereich, der meines Erachtens endlos ist. Musiktheoretisch bin ich nicht speziell versiert. Ich höre eher ein bisschen zu. Etwa habe ich mir eine Orgel gekauft. Ich höre mir an, wie die Orgel klingt und verschaffe mir so einen Zugang zum Instrument. Früher hatte ich Gitarrenunterricht und ich war eine sehr schlechte Schülerin. Heute spiele ich besser Gitarre, trotzdem sehe ich mich nicht als Instrumentalistin. Ich übe auch nicht gezielt den Gesang oder gehe mit einem technischen Blick an das Singen heran. Trotz all dem Gesagten fühle ich mich gut dabei. Manchmal hole ich mir Leute dazu, die etwas besser können als ich. Zudem stört es mich nicht, wenn etwas nicht perfekt klingt. Eigentlich finde ich es sogar ganz gut, wenn es nicht perfekt klingt. Oft ist weniger ja auch mehr. Manchmal spiele ich für einen Song nur zwei Töne und singe dazu. Damit stelle ich mich auf die Bühne und trage es vor. Und es gefällt den Leuten. Oder vielleicht gefällt es ihnen auch nicht. Aber es funktioniert. Man muss gar nicht immer so viel machen, oft funktioniert etwas auch, wenn es nur wenig ist. 

Welchen Personen bist du dankbar, dass du an dem Punkt bist, an dem du jetzt stehst?
Ganz klar der Band, «Serafyn». Dann auch Pola Roy und David vom Label. Den Bands «Fink» und «Kat Frankie», bei denen wir jeweils als Support gespielt haben.  Dem Drummer von «Kat Frankie», Robert, bei dem ich einziehen konnte, als ich nach Berlin gezogen bin. Ich bin den Leuten dankbar, die unsere Musik gehört haben und mir das erzählt haben. In letzter Zeit bin ich Künstler*innen dankbar, die ich inspirierend finde. Beispielsweise habe ich viel im Tagebuch von Meret Oppenheim gelesen. Ich finde es interessant, dass sie auch in Basel gewohnt hat. Sie ging bereits mit 18 Jahren nach Paris zu den Surrealist*innen. Dafür hat sie sich in Basel in den Zug gesetzt, sich auf der Zugfahrt betrunken, ist in Paris ausgestiegen und dann direkt in ein Café gelaufen, in dem die Surrealist*innen abgehangen haben. Mit denen hat sie sich angefreundet und war innert Kürze in deren Kreisen. Das finde ich sehr mutig. Ich tue gerne Dinge, die Überwindung brauchen. Aus dieser Überwindung kann ich immer Gutes ziehen. Das Risiko, dass man sich blamieren oder auf die Schnauze fallen könnte, das finde ich am besten, weil danach fühlt es sich gut an.

Wie wärs mal mit...
....frischem fainem Erdriis.



Vielen Dank, Anna, für deine Zeit.



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von Timon Sutter
am 01.03.2021

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© Timon Sutter für Wie wär's mal mit


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