«Charlie Schuhreparatur»: Im Gespräch mit Etem Küçük
Wir trafen vor der Pandemie den gebürtigen Kurden Etem Küçük, Besitzer von «Charlie Schuhreparatur» zu einem Gespräch. Der Laden steht immer noch da, klein und farbig in einer ruhigen Gasse hinter dem belebten Marktplatz in Basel. Beim Eintreten wird man durch ein fein klingendes Glöckchen, ein freundliches Lächeln und viel Offenheit begrüsst. Wir sprachen mit Etem über Alltägliches und das Leben.


Lieber Etem, woher kommst du und wie bist du nach Basel gekommen?
Ich komme aus der Türkei, aber ich bin Kurde. Und wie ich nach Basel gekommen bin? Oje, einfach hierher gekommen (lacht). Ich habe meine damals zukünftige Frau in der Türkei kennengelernt und geheiratet, eine Schweizerin. Und dann kam ich vor 24 Jahren mit ihr in die Schweiz. Lange her oder? Ich bin verschiedenen Arbeiten in der Schweiz nachgegangen. Zuerst habe ich in einer Fabrik gearbeitet, danach in einem Hotel und dann machte ich eine Anlehre in der orthopädischen Schule. Nach den zwei Jahren Lehre konnte ich dort drei Jahre weiterarbeiten und dann direkt diesen Laden «Charlie Schuhreparatur» übernehmen. Selbständig. Seit 11 Jahren.


Gehst du noch in die Türkei?
Ja, ich gehe jedes Jahr – im Sommer. Es wäre schön, wenn wir uns wohl fühlen könnten, ohne die aktuellen Konflikte. Aber das geht nicht, man spürt es, man sieht es, man hört es. Und nicht hinsehen, nicht hinhören, das geht ja auch nicht, das wäre unnatürlich.


Wie findest du die Basler*innen?
Sehr gut (lacht). Sie sind korrekt, das ist sehr wichtig für mich. Vertrauen. Ich kann ihnen Schuhe mitgeben und sagen: probiere sie und wenn sie dir gefallen und passen, kannst du mir das Geld bringen. Und sie kommen zu hundert Prozent wieder. Dann bin ich zufrieden und sie sind zufrieden. Wir müssen nicht alles auf Papier festhalten. Und wenn sie doch nicht mehr kommen, nicht so schlimm, selber schuld. Ich habe dann kein schlechtes Gewissen, sie haben es.



Für was alles kommt man in den Laden «Charlie Schuhreparatur»?
Ich repariere und ändere Schuhe, Taschen, Rucksäcke und Reissverschlüsse. Gestern habe ich den Reissverschluss von einer Cellotasche repariert. Manchmal muss ich selber lachen, was alles zu mir kommt. Ich nehme gerne alles und probiere. Manchmal geht es, manchmal nicht. Montag ist mein freier Tag, dann gehe ich nicht schlafen, ich gehe Schuhe suchen. Und immer am Samstag gehe ich früh am Morgen zum Petersplatz. Das macht Spass. Ich suche Schuhe, kaufe sie und ändere sie. Sieh mal hier: ich habe bei alten Schlittschuhen eine normale Sohle rangemacht.


Was ist das Peinlichste, dass dir jemals im Laden passiert ist?
Manchmal finde ich die Schuhe nicht mehr. Gewisse Leute vergesse ich nicht und andere vergesse ich in einer halben Stunde. Ich werde dann wütend auf mich selber, vor allem, weil es mir immer wieder passiert. Ich suche und suche und wenn ich die Schuhe nicht finde, werde ich nervös. Oft sage ich dann, sie sollen später wieder kommen. Wir haben bis jetzt alles gefunden, die Schuhe sind ja da. Ich bräuchte eigentlich eine Hilfskraft, die mir hilft die Schuhe zu suchen (lacht).

Aber du hast ja Nummern der Kund*innen?
Ja, aber viel einfacher als die Nummern zu suchen ist, wenn ich mir das Gesicht zu den Schuhen einpräge, das gelingt halt nicht immer. Am besten ist es, wenn die Kund*innen die Schuhe selber sehen, sie kennen ja ihre Schuhe. Sie können direkt sagen: Das da sind meine Schuhe.



Hast du etwas in Basel gelernt?
Ich gehe hier sehr oft wandern. Das ist typisch für die Schweizer*innen oder? Ich gehe nicht ins Museum, ins Theater oder ins Kino – das interessiert mich nicht. Aber rausgehen, in den Wald, das ist wunderschön. Das habe ich gelernt. Man sieht viel Neues, aber was einem gefällt, das übernimmt man. Ich bin froh, hier zu sein, es ist schön und einfach. Es funktioniert. Es ist sehr teuer, aber es funktioniert. Wenn du ins Spital kommst: alles funktioniert. Das Tram: funktioniert. Gehst du zur Post: funktioniert. Zur Bank: funktioniert. Einfach und schön.


Wenn dein Laden ein Musikstück wäre, was für eines wäre es?
Türkische, kurdische Volksmusik. Das ist das Einzige, was ich höre.

Was wünschst du dir für die Basler*innen?
Für die Basler*innen oder für die ganze Welt? Sie sollen ein bisschen weniger arbeiten, etwas mehr geniessen. Sie machen tausende Termine, hunderte Kurse, lernen lernen lernen.

Du arbeitest doch auch viel?
Ja, aber ich arbeite und dann gehe ich nach Hause und arbeite nicht mehr weiter. Ein bisschen sitzen und diskutieren. Philosophieren. Das ist wichtig. Es gibt wichtige Sachen, die sehr gesund sind. Danach kann man gut teilen. Nicht so fest alles für sich selber wollen, sondern teilen. Man macht einen Tee – Schwarztee – sitzt ruhig und sitzt richtig.


Wie sitzt man richtig?
Ohne aufzustehen und immer im Hinterkopf zu haben, dass man bald gehen muss. Man sitzt, ohne auf die Uhr zu schauen. Man redet. Jemand kann etwas erzählen, etwas Witziges, oder man singt oder tanzt, kocht und isst. Aber nicht einfach nur zehn Minuten. Einer geht, einer kommt – keine Zeit. Sozialer, nicht so individuell. Das ist nicht nur hier so, überall. Wenn die Menschen nicht abhängig sind voneinander, brauchen sie einander nicht und wollen nur Spass. Das macht Spass, also gehe ich dorthin und dann dort usw. Nur Spass. Aber eigentlich braucht man einander. Sagen wir, du bist jetzt eine halbe Stunde hier und wir reden. Wir lernen voneinander, man lernt immer. Nicht nur vom Lesen lernt man. Man liest und dann? Was hast du gelernt? Buch zu und nächstes Buch, ohne zu teilen, was man gelernt hat, wie eine Sucht. Man muss nicht viel lesen, gut überlegen und schauen, beobachten, die Natur zeigt einem alles.


Was hast du aus deinem Leben gelernt?
Viel ist einfach zu viel. Stell dir vor du hast zehn Kilo mehr. Das ist nicht gut. Geld genauso, Kleider genauso. Alles was du mehr hast, ist mehr Arbeit. Man kann alles reduzieren. Weniger Arbeit, mehr Platz. Stell dir vor ich habe zehn Kilo mehr, dann muss ich diese zehn Kilo die ganze Zeit tragen, das wäre schrecklich. Weniger essen, gut essen, beweglich sein. Das ist nur ein Beispiel. Bei Geld funktioniert es genau gleich. Je mehr ich besitze, desto mehr muss ich daran denken. Ich bin nicht hierher gekommen für diese Dinge, ich bin gekommen, um zu leben. Schön leben und fein schlafen. Wenn man nichts macht, kann man nicht gut schlafen, nicht gut essen, nicht gut sitzen, nicht gut liegen. Man kann sich alles verdienen. Das Leben ist gut, wenn man das weiss. Man muss schauen, was man selber kann. Egal, was die anderen machen. Kannst du zehn Kilo tragen oder 30 Kilo? Unabhängig davon, was andere tragen können. Es geht um dich.


Erzähl mir was über die Liebe.
Liebe? Was ist das: Liebe? Was meinst du, verliebt?

Was verstehst du unter Liebe?
Liebe? Was ist Liebe? Was ist die Grenze für Liebe? Ist teilen Liebe oder wenn ich etwas schön finde? Ich weiss es nicht. Wo ist die Liebe? Wenn ich jemanden um etwas bitte und die Person macht es für mich, ist das Liebe? Oder wenn sie es nicht macht und ich sie trotzdem liebe? Schwierig. Ich sage dir, Liebe braucht es. Ohne Liebe geht es nicht. Wenn du liebst, kannst du nichts Böses machen. Wenn du ein Tier liebst, wie kannst du es schlagen? Wenn du ein Kind, einen Baum, eine Pflanze, eine Blume liebst, willst du nur das Beste für sie. Du schützt sie. Liebe ist meine Religion.


Dann erzähl mir mehr über deine Religion.
Liebe ist wirklich etwas so Schönes. Liebst du? Dann wirst du jung. Du machst alles dafür, du bist nicht faul. Ist es ein Baum, gibst du ihm Wasser, oder ein Haus oder Garten, dann schaust du dazu. Für alle, die du liebst, machst du alles. Wenn du Menschen liebst und eine alte Person kommt, hilfst du ihr. Stell dir vor du liebst nicht. Das wäre eine Katastrophe. Wenn man liebt, schaut man den Vögeln zu, betrachtet die Bäume. Einfach weil sie schön sind. Wütend sein ist ungesund. Liebe ist schön, macht schön und gibt gute Laune. Liebe ist schön, Liebe ist gut und von Liebe bekommst du nie etwas Böses. Von allem anderen bekommst du etwas Schlechtes, später. Wenn du Macht hast in einem Moment und diese ausnutzt und nicht aus Liebe handelst, wird es später auf dich zurückkommen. Wenn du alles aus Liebe machst, mit Macht oder ohne musst du nie Angst haben.

Wie wär’s mal mit... 
...geniessen.



In einer Publikation der Schweizer Illustrierten wird er auch als «der beste Schuhmacher, den ich kenne» bezeichnet. Wir befürworten diese Aussage und können einen Besuch wärmstens empfehlen. Sei es für die Reparatur von Schuhen, einen Neukauf oder einfach ein nettes Gespräch.


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von Vera Frei
am 22.03.2021

Fotos
© Vera Frei für Wie wär's mal mit


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