Demenzladen Feldbergstrasse: Im Gespräch mit dem Gründer Helmut Mazander

Die Zeit läuft. Sie läuft für uns alle. Wo einst der Demenzladen an der Kleinbasler Feldbergstrasse stand, entsteht mit den Nachmietern Basel unverpackt etwas Neues. Wir führten ein Gespräch über den Alterungsprozess und das Menschsein mit dem Demenzladengründer Helmut Mazander, welcher mittlerweile nur in Lörrach seinen Laden betreibt.


Lieber Helmut Mazander, Sie sind Gerontologe und beschäftigen sich mit dem Phänomen Altern. Altert der Geist genauso wie der Körper und wann beginnt das?
Für die Gerontologie ist zunächst interessant, wie diese einzelnen Alterungsprozesse stattfinden. Das Aufhören ist relativ klar: wenn’s aufhört, stirbt man. Die spannende Frage ist, wann fängt man an alt zu werden? Wenn man auf die Welt kommt? Wenn ich heute auf die Welt komme, bin ich morgen bereits doppelt so alt, das ist eigentlich wahnsinnig und das Verhältnis nimmt natürlich immer weiter ab.

Man wird langsamer älter?
Am Anfang altert man rasend schnell und dann verlangsamt sich der Prozess. Unsere Gesellschaft befindet sich in einer philosophischen Debatte. Heute geht man davon aus, dass man ab 65 Jahren alt ist. Meine Haltung ist eine ganz andere: In meinen Augen fangen wir sofort an zu altern, vom ersten Tag an. Spannend ist, wie ich in meinem Alterungsprozess das Leben annehme. Es geht darum, dass das Leben, das sich zu Beginn rasant ins Alter entwickelt, immer schön sein kann.

Wie nimmt man im Alterungsprozess das Leben an?
Die Idee ist im Grunde genommen geliebt zu werden. Schon wenn ich auf die Welt komme, habe ich das Bedürfnis mich sicher und wohl zu fühlen. Ich erhalte Geborgenheit im Schoss meiner Mutter oder an ihrer Brust. Dieses Bedürfnis hört erst mit dem Tod auf. Betrachte ich nun meinen Beruf – die Begleitung, Betreuung und Pflege von Menschen mit Demenz – bleibt die Idee genau die gleiche.


Wie ist es bei Ihnen selbst. Hat der Alterungsprozess an Helmut Mazander etwas verändert?
Ich bin bald 56 Jahre alt. Als ich zwanzig war, hatte ich die genau gleiche Idee. Das Leben muss schön sein und es findet jetzt statt. Dementsprechend habe ich gelebt. Das hat sich bis heute nicht verändert.

Sie treffen Ihr älteres Ich und stellen ihm eine Frage.
Ich würde gerne einmal dement werden, damit ich erfahren kann, wie das ist. Ich kann zwar Bedeutungen fachlich ableiten, aber wie sich das für den einzelnen Menschen anfühlt, davon habe ich keine Ahnung.

Demenz, was ist das eigentlich?
Demenz heisst ohne Geist. Wenn unser Gehirn anfängt, nicht mehr richtig zu funktionieren, dann bezeichnen wir das von aussen als geistlos. Ich habe Schwierigkeiten Raum und Zeit einzuordnen, ich bin vergesslich und mein Kurzzeitgedächtnis nimmt ab. Vielleicht kann ich mich nicht mehr orientieren. Es geht dann über zu Erkennungs- und Wahrnehmungsstörungen. Zum Beispiel sehe ich ein Glas und da ist Wasser drin, jedoch weiss ich nichts damit anzufangen. Nach und nach geht das über auf mein Sprachverständnis. Ich höre zwar noch mit meinem Ohr was gesagt wird, aber kann es nicht mehr sortieren. Das ist vergleichbar mit dem Bandsalat. Früher hatten wir Kassetten, und wenn sie alt wurden oder der Rekorder nicht mehr gut war, hat es das Bändlein rausgezogen und es gab einen Bandsalat.


Sind sich Demente im Klaren darüber, dass sie diese Schwierigkeiten haben?
Es gibt sicherlich eine Phase im Demenzprozess, in der sie das merken. Das ist eine sehr schwierige Phase für die Leute, wenn sie feststellen, wie sich etwas verändert. Im weiteren Verlauf haben sie das Bewusstsein noch, aber sie können ihre Defizite nicht mehr zuordnen. Sie haben aus ihrer Sicht gar keine Defizite. Für die Dementen an diesem Punkt sind quasi alle anderen die Geisterfahrer. Aus Sicht der Begleitung solcher Menschen ist das etwas ganz Spezielles. Ich möchte ihnen das Bewusstsein aber nicht absprechen. So kann ich den Menschen, der mir gegenüber ist – mit allen seinen verlorenen Möglichkeiten – trotzdem als den Menschen anerkennen, der er ist. Ich will, dass die Menschen das Gefühl haben, dass sie vollwertig sind. Hingegen wenn ich ihn als krank erkläre, dann bleiben mir zwei Möglichkeiten. Entweder möchte ich ihn heilen, was im Demenzbereich nicht möglich ist, oder ich verzweifle irgendwann und sage: Diese Person ist krank und da kann sowieso nichts mehr gemacht werden.

Gibt es je nach Kulturkreis Unterschiede im Umgang mit Demenz?
Mit dem Phänomen Demenz gehen unterschiedliche Erlebniswelten und Kulturen in der Tat verschieden um. Die Betroffenen selber – egal ob in Japan, der Türkei, den USA oder in Afrika – sind genau gleich. Der Prozess ist der gleiche und die Verhaltensweisen sind die gleichen. Natürlich sind die Lebenshintergründe anders. Wir begleiten einen Professor und eine Putzfrau. Beide haben eine Sprachverständnisstörung und ähnliche Schwierigkeiten sich auszudrücken oder andere zu verstehen. Die Themen, die sie beschäftigen sind jedoch ganz anders. Bei der Putzfrau ist es vielleicht der Raum, in dem sie gearbeitet hat oder dass sie lange Zeit für andere Menschen putzen musste. Der Professor dagegen versucht in seiner Einschränkung irgendwelche intellektuellen Auseinandersetzungen zu führen. Aber irgendwann finden beide die Toilette nicht mehr.


Der Prozess führt einen zurück zum Menschsein. Zum Wesenskern und zu den Grundbedürfnissen. Ist das die schöne Seite der Demenz?
Ich mache das jetzt seit dreissig Jahren und finde das Thema spannend, weil es den Menschen so zeigt, wie er ist. Nicht wie er sein könnte.

Demenz ist ein Begriff, unter dem wir ganz viele individuelle Situationen sammeln.
Das ist eine riesige Gefahr. Man sagt, dass die Menschen, die so oder so ticken, dement sind. Und die Mehrheit sagt ja auch, dass diese Menschen demenzkrank sind. So wird die Demenz verallgemeinert und das ist schade. Jede Demenz ist trotz der vielen Ähnlichkeiten im Prozess immer individuell.

Wann komme ich in den Demenzladen?
In den Demenzladen komme ich dann, wenn ich das Gefühl habe, es verändert sich etwas. Es kommen Leute zu uns, die das Gefühl haben, dass andere sie nicht mehr richtig verstehen. Es kommen Angehörige hinein, die sagen, dass sie ein Telefon brauchen für ihren Vater. Telefonieren ist gar nicht so einfach, wenn man nicht mehr weiss, was das für ein Ding ist oder wo der Hörer hingehört. Dann rate ich von einem Kauf ab. Das verwirrt den Vater nur noch mehr, wenn er ein Telefon hat, das er nicht brauchen kann.


Alltägliche Dinge wie das Telefonieren tauchen plötzlich mit einem Fragezeichen auf.
Irgendwann im Prozess wird auch das Essen schwierig. Wie mache ich ein Gurkenglas auf? Das Handling geht verloren. Zwar steht da der Teller voll Essen, aber ich weiss nicht mehr, wie es geht. Vielleicht braucht es nur die Idee, das Besteck wegzulassen. Oder vielleicht erkennen sie weissen Fisch an weissem Reis auf weissem Teller nicht mehr. Also nehmen wir einen bunten Teller oder machen ein bisschen Petersilie drauf. Es geht nicht mehr um gesellschaftliche Konventionen, sondern darum, dass der Selbstwert gestärkt wird.

Was unterscheidet den Demenzladen von konventionellen Angeboten?
Was wir über den Demenzprozess erzählen, ist vielleicht häufig das Gleiche. Die Alternative zeigt sich darin, dass man bei uns ohne Voranmeldung hereinkommen kann. Häufig ist es für die Angehörigen sinnvoll, wenn wir über ihre Haltung sprechen und verschiedene Blickwinkel einnehmen. Es kann viel Erleichterung mit sich bringen, die Demenz als Prozess und nicht als Krankheit zu betrachten. Auch wie wir gewisse Herausforderungen angehen, zeichnet uns aus. Ich habe lange Jahre eine Frau betreut, welche sich partout nicht waschen lassen wollte. Das zog sich lange so hin. Dann habe ich gesagt: Jetzt gehen wir ins Hallenbad. Wieso ins Hallenbad? Bevor man baden geht, duscht man. Im Hallenbad wird geduscht. Wir gingen ins Hallenbad und die Frau hat geduscht. Seit dann war das Waschen kein Problem mehr.


Das Thema so aufzugreifen polarisiert.
Das Tabu zu brechen, ist auch der Sinn dahinter. Wir müssen uns das Leben bunt machen. Gerade Menschen mit Demenz leben uns das vor. Was ist schon morgen oder Donnerstag. Donnerstag ist der Tag nach dem Mittwoch. Und was ist schon wieder Mittwoch?

Geben Sie unserer Leserschaft etwas mit auf den Weg, indem Sie folgenden Satz ergänzen: Wie wär’s mal mit…
…Beziehung.


Wir danken Helmut Mazander für das spannende Gespräch und wünschen ihm viele schöne Begegnungen in seinem Demenzladen in Lörrach.


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von Timon Sutter
am 06.02.2017

Fotos
Vera Frei für Wie wär's mal mit



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