Heitere Fahne: Im Gespräch mit Hannes, Gianna und Mikosch
Die «Heitere Fahne» in Wabern bei Bern ist ein Kulturort, ein soziales Projekt, ein inklusives Haus, eine Nachbarschaftsbeiz und doch viel mehr. Sie ist einer dieser Orte, die man nicht einfach so in einem Satz definieren kann. Zum diesjährigen Heitere-Motto «Futura Fantastica» erzählen Gianna, Hannes und Mikosch vom Arbeiten, Leben und Sein in der «Heitere Fahne» und was diesen speziellen Ort mit seinen Freuden und Sorgen ausmacht.
Lieber Hannes, was ist die «Heitere Fahne» und wie hat sie sich entwickelt?
Hannes: Am Anfang war es ein Freundschaftskollektiv, welches damals noch das «Säbeli Bum» (Ein Musik- und Theaterfestival für Menschen mit und ohne Behinderungen) und Insieme-Lager durchgeführt hat. Jetzt ist es auch ein Freundschaftsprojekt, aber mit einer ganz anderen Ausgangslage: 30 bis 33 Menschen versuchen gemeinsam freundschaftlich dieses Haus zu beleben. Gleichzeitig kommen diese Menschen aus ganz verschiedenen Himmelsrichtungen und in ganz verschiedenen Formen, also auch als Zivis, Praktikanten, als Ratsuchende, als Ausführende, und auch als weiterdenkende Personen in dieses Haus. Und gleichzeitig haben wir aber den Anspruch, dass gleich von Beginn weg diese Berührungen zugelassen werden sollen, wie sie sonst nur in Freundschaften, bei Kollegen oder im Ausgang kultiviert werden.
Gianna, Hannes und Mikosch, was genau macht ihr in der «Heitere Fahne»?
Gianna: Ich mache hier momentan ein Praktikum und arbeite jeweils am Dienstag, Freitag, Mittwoch und Sonntag. Ich mache Kreatives, die Wäsche, Küche und den Service. Vorher war ich in der «Soteria», eine Institution für Menschen mit einer Psychose.
Mikosch: Ich bin in allen Sektoren tätig. Ich helfe beim Bühnenbild, Aufbau, in der Bar, im Service und auch bei der Organisation von kulturellen Ideen und deren Umsetzung.
Hannes: Ich war von Beginn bei diesem Projekt dabei. Als Hintergrund habe ich eine eigene Heimkarriere, im Sinne dass meine Eltern ein anthroposophisches Heim mit aufgebaut haben und ich mit Menschen mit Behinderungen quasi Hand in Hand aufgewachsen bin. Ich bezeichne mich momentan als Sozialabwart, oder als Abwart, weil ich immer mit einem grossen Schlüsselbund herumlaufe. Heisst, ich probiere mitzuverantworten, was sozusagen der Rahmen hier ist. Ich versuche am Rahmen mitzudenken.
Wieso der Name «Heitere Fahne»?
Hannes: «Heitere Fahne» ist tatsächlich ein Glücksmotto gewesen. Ich habe ihn aber nicht erfunden. Und warum «Heitere Fahne»? Ein paar Menschen stehen zusammen und möchten etwas Gutes machen und die Möglichkeit gab es durch dieses Haus. Das war eigentlich die Ausgangslage des Projektes.
Wieso braucht es die «Heitere Fahne»?
Gianna: Sie bringt sehr viele Leute zusammen, es kommen Leute reingucken, es ist ein Ort zum Ankommen. Es ist ein sehr wichtiger Ort mit vielen tollen Anlässen. Gerade auch für ältere Leute.
Mikosch: Orte, wie die «Heitere Fahne», bieten die Möglichkeit magische Momente zu erleben, zu kreieren, mitzumachen. Dieser Ort kann vielen Menschen etwas geben. Die «Heitere» versprüht viel Freude, Farbe und Liebe besonders nach aussen.
Was habt ihr euch zu Beginn des Projektes erhofft?
Hannes: Man hat sich damals nichts Konkretes erhofft. Wir wussten einfach, dass es eine einmalige Chance ist. Am Anfang waren tatsächlich viele andere Leute mit an Bord, von denen heute noch etwa vier übrig sind. Das ist nicht sehr viel nach sechs Jahren. Und gleichzeitig, haben wir nach wie vor viele helfende Hände. Erhofft hat man sich ganz verschiedene Luftschlösser. Wo am meisten Realität eingetroffen ist, für Leute, welche die «Heitere» verlassen haben, ist die Situation der Finanzierung. Viele wollten nicht ein solches Risiko eingehen oder haben nicht die Chance gesehen, in diesem Projekt irgendwann auch zu Geld zu kommen. Und heute sind wir nach wie vor daran, diesen Aspekt besser abzufedern.
Gab es auch Momente, in denen ihr gesagt habt, wir blasen das Ganze ab?
Hannes: Solche Momente gibt es sicher einmal pro Woche bei jemandem von der «Heitere» (lacht). Es gibt immer wieder Leute, die sagen, die «Heitere» ist am Ende. Aber ich glaube, das ist mehr ein Ausdruck der Überforderung, die uns immer wieder packt, die uns auch immer wieder zweifeln lässt. Gewisse Leute leiden schon darunter. Andere wiederum leiden an den Gedanken, die man hier mit ins Bett nimmt und jeden Morgen auch wieder angehen muss.
Was bereitet euch Freude hier?
Hannes: Den Boden zu geben, gemeinsam gute Momente zu schaffen, von denen Dritte profitieren können sowie die Freiheit mit Verantwortung zu verbinden. Und vielleicht dieses ganze Verspiesste in dieser Gesellschaft einfach zu hinterfragen und einfach nicht zu tun.
Mikosch: Ich schätze das Kreieren, das Sein, die Konfrontation. Es ist ein Ort, an dem viel Schönheit entsteht und an dem relevante gesellschaftliche Themen zusammenkommen: Inklusion, Gastronomie, Zukunft, Wirtschaftlichkeit, Soziales und Kulturelles.
Gianna: Man kann hier einfach so sein, wie man ist. Das ist schön.
Was macht euch Mühe?
Mikosch: Wenn ich die Motivation nicht in mir selbst suche, hier zu sein, sondern in anderen Dingen. Wenn ein Klima entsteht, dass die Leute hier alle auf sich selbst zurückwirft.
Hannes: Wenn's nicht aufgeht, wenn's nicht verstanden oder wenn's anders gesehen wird. Wenn man denkt, die «Heitere» ist ein super Projekt aber sich gleichzeitig von der Rolle verabschiedet, welche dieses Haus braucht. Wir sind ja ein Freundschaftsprojekt und eben bis heute kein Therapieangebot.
Gianna: Mir macht es Mühe hier, wenn ich meiner Krankheit verfalle. Wenn ich Symptome habe. Manchmal an Sitzungen kann das sehr anstrengend werden. Ich denke manchmal ich höre meinen Namen, wie er geflüstert wird. Das löst manchmal die Frage in mir aus, gehöre ich dazu oder nicht?
Ist die «Heitere Fahne» ein politischer Ort?
Gianna:Für mich ist mehr ein Kulturbetrieb, schon mit politischen Hintergründen, aber nicht so wie die Reitschule zum Beispiel.
Hannes: Wir versuchen nach aussen nicht wahnsinnig politisch aufzutreten. Wenn man es gesellschaftlich betrachtet, glaube ich stark, dass wir ein politisches Projekt sind. Im Sinne dass wir an eine Zukunft glauben, die wieder mehr Verantwortung den Menschen gibt und gleichzeitig zusammen vorgelebt wird, wo Leute auch mit anpacken können.
Mikosch: Die «Heitere» ist mit ihren Handlungen oft politisch. In Zeiten, in denen man sich sehr bedacht ausdrücken muss, ist es ein Ort, der damit spielt, ein Ort der Gratwanderungen.
Die «Heitere Fahne» zeichnet sich unter auch dadurch aus, dass hier Arbeit, Freunde, Familie, Ausgehen und auch Wohnen zusammenkommt. Wie funktioniert das?
Mikosch: Irgendwie funktioniert es, aber es führt auch immer wieder zu Fragen und zu Auseinandersetzungen. Aber auch zu Momenten, in denen man gemeinsam einen Weg findet. Ich sehe das kritisch, aber auch als Geschenk.
Hannes: Ich glaube, das ist so ein bisschen der Zauber dieses Projekts, den wir uns noch gönnen. Ich glaube, dass die Leute, die hier mitmachen, bereit sein müssen, «all in» zu gehen, wie wir dem hier sagen.
Wie hält man es aus, sich immer wieder mit der klammen finanziellen Ausgangslage auseinanderzusetzen?
Hannes: Indem man sich zum Teil betäubt, oder andere Projekte in den Vordergrund stellt. Die Emotionen, die hier mit an Bord sind, würden jegliches Theater sprengen. Ich verstehe gut, weshalb andere Häuser oftmals sehr hierarchisch sind, um genau diese Emotionen im Griff zu behalten. Bei uns haben die Emotionen hingegen Kultur, und wenn man sie zu einem Blumenstrauss bündeln kann, dann entsteht eben genau dieses befruchtende, welches dieses Haus auch ausstrahlt, diese Vielfalt und das Gefühl, das jeder einzelne eben ein wichtiger Teil sein kann. Wenn man aber hier nach einem halben Jahr abschuften dabei ist und es keine Ferien gibt, und immer noch neue Dinge dazukommen, dann wird es für gewisse Menschen schon sehr unangenehm, im Sinne von: Es reicht jetzt mal!
Die «Heitere Fahne» ist ein Ort, wohin jede*r ohne Leistungsdruck kommen kann. Sie ist aber auch ein Ort, der sehr auf Eigenleistung pocht.
Hannes: Das ist ein Paradox. Aber ich glaube die Leistung bei uns wird darin wahrgenommen, wie jemand eben leisten kann und nicht was er leisten kann. Dieses Haus ist nicht auf drei Menschen gebaut, das ist auf eine grössere Anzahl Menschen aufgebaut. Nicht zuletzt auch auf Menschen, denen die Leistung abgeschworen worden ist, im Sinne, dass sie eine Rente haben. Aber die machen einen mega wichtigen Job hier. Bei uns ist es eben ein bisschen anders mit der Leistung, wir verstehen uns hier als Freundschaft und wenn es einem gut geht, soll man dafür brennen, wenn es einem nicht so gut geht, soll man offen damit umgehen und auch seine Freiheiten und Bedürfnisse ganz klar anbringen.
Ist mehr Begegnung das, was wir brauchen?
Mikosch: Es ist sicher ein Ansatz. Begegnungsorte sind ja nichts Neues, die «Heitere Fahne» ist einfach eine Möglichkeit.
Hannes: Begegnung wird wohl nicht weniger wichtig werden, im Internetzeitalter und mit Grossanlässen, bei denen alle in eine Richtung gucken. Es sind schon viele Komponenten, die tatsächlich auch zum Austausch anregen in diesem Haus. Dieses Städtische, Schnelllebige, Vereinsamende, das hat es bei uns nicht. Obwohl wir eine grosse Beizenbar haben, glaube ich, ist es bei uns tatsächlich so ein Mix zwischen einer Art Landstube, Beiz und diesem modernen Suchen von jungen Menschen, alle in einem Familiy-Groove zu halten. Das ist schon spannend. Ich glaube tatsächlich, dass das Modell «Heitere Fahne» an Relevanz gewinnen könnte.
Motto «Futura Fantastica». Was wünscht ihr euch für die Zukunft?
Gianna: Dass Flüchtlinge in der Schweiz leben können, dass es in Bern nächstes Jahr nicht wieder ein Formel-E Rennen gibt, dass die Massentierhaltung aufhört. Dass Menschen, die eine Krankheit oder Beeinträchtigung haben, frei arbeiten können. Dass die «Heitere Fahne» weiterlebt und eben genau der Ort ist, für Menschen mit Beeinträchtigungen, oder mit einer Krankheit oder auch Flüchtlinge.
Mikosch: Die Zukunft ist etwas Unbekanntes. Ich kann nicht wissen, was kommt, nur eine Haltung einnehmen, wie ich darauf zugehe. Die «Heitere» entwickelt sich aus so vielen unterschiedlichen Aspekten und individuellen Wünschen.
Hannes: Zukunft heisst für uns zurzeit das Motto «Futura Fantastica - Wie wollen wir gelebt haben». Ein spannendes Thema. Ich glaube die Zukunft ist in der «Heitere Fahne» zurzeit sehr offen und sie kann ganz verschieden gut kommen. Ich glaube, dass wir unseren Weg finden, das Ding hier so weiterzumachen, wie wir es auch wirklich möchten.
Was nehmt ihr persönlich von der «Heitere Fahne» mit?
Mikosch: Es sind so viele Aspekte, es ist gewissermassen eine Prägung, die man hier kriegt. Von Freundschaft über Arbeit und Lebensfragen bis hin zu realistischen Ansätzen: Was heisst es eigentlich etwas zu machen, etwas umzusetzen? Und welche Kosten sind damit verbunden? Was ist ein realistischer Boden mit Hang zu Verspielt- und Verträumtheit?
Gianna: Den Service, die soziale Leistung, die wir anbieten für Menschen mit Beeinträchtigungen. Und ganz viele Ideen und Kreativität, wie man mit Leuten umgeht.
Wie wär’s mal mit...
Hannes: ...einer Party rund ums Thema der Sexualität? Beim Thema Sexualität nehme ich momentan gerade ganz, ganz viel Glück, aber auch Verstauchung und Krämpfe in unserer Gesellschaft war. Und es ist Sommer und geht durch die Badi und denkt: «He Freunde, ihr wollt es doch alle zusammen ein bisschen schön haben.» Aber wie schaffen wir es?
Gianna: ...ein Projektli in der Landwirtschaft.
Mikosch: ...einem Ausdruck des Lebens!
Vielen Dank an Hannes, Gianna und Mikosch für das ausführliche und spannende Gespräch.
_
von Christof Hofer
am 16.09.2019
Fotos
© Oliver Schmocker für Wie wär's mal mit
Wer die Bilder weiterverwenden möchte, muss sich die Rechte bei Wie wär’s mal mit einholen.
Die «Heitere Fahne» in Wabern bei Bern ist ein Kulturort, ein soziales Projekt, ein inklusives Haus, eine Nachbarschaftsbeiz und doch viel mehr. Sie ist einer dieser Orte, die man nicht einfach so in einem Satz definieren kann. Zum diesjährigen Heitere-Motto «Futura Fantastica» erzählen Gianna, Hannes und Mikosch vom Arbeiten, Leben und Sein in der «Heitere Fahne» und was diesen speziellen Ort mit seinen Freuden und Sorgen ausmacht.
Lieber Hannes, was ist die «Heitere Fahne» und wie hat sie sich entwickelt?
Hannes: Am Anfang war es ein Freundschaftskollektiv, welches damals noch das «Säbeli Bum» (Ein Musik- und Theaterfestival für Menschen mit und ohne Behinderungen) und Insieme-Lager durchgeführt hat. Jetzt ist es auch ein Freundschaftsprojekt, aber mit einer ganz anderen Ausgangslage: 30 bis 33 Menschen versuchen gemeinsam freundschaftlich dieses Haus zu beleben. Gleichzeitig kommen diese Menschen aus ganz verschiedenen Himmelsrichtungen und in ganz verschiedenen Formen, also auch als Zivis, Praktikanten, als Ratsuchende, als Ausführende, und auch als weiterdenkende Personen in dieses Haus. Und gleichzeitig haben wir aber den Anspruch, dass gleich von Beginn weg diese Berührungen zugelassen werden sollen, wie sie sonst nur in Freundschaften, bei Kollegen oder im Ausgang kultiviert werden.
Gianna, Hannes und Mikosch, was genau macht ihr in der «Heitere Fahne»?
Gianna: Ich mache hier momentan ein Praktikum und arbeite jeweils am Dienstag, Freitag, Mittwoch und Sonntag. Ich mache Kreatives, die Wäsche, Küche und den Service. Vorher war ich in der «Soteria», eine Institution für Menschen mit einer Psychose.
Mikosch: Ich bin in allen Sektoren tätig. Ich helfe beim Bühnenbild, Aufbau, in der Bar, im Service und auch bei der Organisation von kulturellen Ideen und deren Umsetzung.
Hannes: Ich war von Beginn bei diesem Projekt dabei. Als Hintergrund habe ich eine eigene Heimkarriere, im Sinne dass meine Eltern ein anthroposophisches Heim mit aufgebaut haben und ich mit Menschen mit Behinderungen quasi Hand in Hand aufgewachsen bin. Ich bezeichne mich momentan als Sozialabwart, oder als Abwart, weil ich immer mit einem grossen Schlüsselbund herumlaufe. Heisst, ich probiere mitzuverantworten, was sozusagen der Rahmen hier ist. Ich versuche am Rahmen mitzudenken.
Wieso der Name «Heitere Fahne»?
Hannes: «Heitere Fahne» ist tatsächlich ein Glücksmotto gewesen. Ich habe ihn aber nicht erfunden. Und warum «Heitere Fahne»? Ein paar Menschen stehen zusammen und möchten etwas Gutes machen und die Möglichkeit gab es durch dieses Haus. Das war eigentlich die Ausgangslage des Projektes.
Wieso braucht es die «Heitere Fahne»?
Gianna: Sie bringt sehr viele Leute zusammen, es kommen Leute reingucken, es ist ein Ort zum Ankommen. Es ist ein sehr wichtiger Ort mit vielen tollen Anlässen. Gerade auch für ältere Leute.
Mikosch: Orte, wie die «Heitere Fahne», bieten die Möglichkeit magische Momente zu erleben, zu kreieren, mitzumachen. Dieser Ort kann vielen Menschen etwas geben. Die «Heitere» versprüht viel Freude, Farbe und Liebe besonders nach aussen.
Was habt ihr euch zu Beginn des Projektes erhofft?
Hannes: Man hat sich damals nichts Konkretes erhofft. Wir wussten einfach, dass es eine einmalige Chance ist. Am Anfang waren tatsächlich viele andere Leute mit an Bord, von denen heute noch etwa vier übrig sind. Das ist nicht sehr viel nach sechs Jahren. Und gleichzeitig, haben wir nach wie vor viele helfende Hände. Erhofft hat man sich ganz verschiedene Luftschlösser. Wo am meisten Realität eingetroffen ist, für Leute, welche die «Heitere» verlassen haben, ist die Situation der Finanzierung. Viele wollten nicht ein solches Risiko eingehen oder haben nicht die Chance gesehen, in diesem Projekt irgendwann auch zu Geld zu kommen. Und heute sind wir nach wie vor daran, diesen Aspekt besser abzufedern.
Gab es auch Momente, in denen ihr gesagt habt, wir blasen das Ganze ab?
Hannes: Solche Momente gibt es sicher einmal pro Woche bei jemandem von der «Heitere» (lacht). Es gibt immer wieder Leute, die sagen, die «Heitere» ist am Ende. Aber ich glaube, das ist mehr ein Ausdruck der Überforderung, die uns immer wieder packt, die uns auch immer wieder zweifeln lässt. Gewisse Leute leiden schon darunter. Andere wiederum leiden an den Gedanken, die man hier mit ins Bett nimmt und jeden Morgen auch wieder angehen muss.
Was bereitet euch Freude hier?
Hannes: Den Boden zu geben, gemeinsam gute Momente zu schaffen, von denen Dritte profitieren können sowie die Freiheit mit Verantwortung zu verbinden. Und vielleicht dieses ganze Verspiesste in dieser Gesellschaft einfach zu hinterfragen und einfach nicht zu tun.
Mikosch: Ich schätze das Kreieren, das Sein, die Konfrontation. Es ist ein Ort, an dem viel Schönheit entsteht und an dem relevante gesellschaftliche Themen zusammenkommen: Inklusion, Gastronomie, Zukunft, Wirtschaftlichkeit, Soziales und Kulturelles.
Gianna: Man kann hier einfach so sein, wie man ist. Das ist schön.
Was macht euch Mühe?
Mikosch: Wenn ich die Motivation nicht in mir selbst suche, hier zu sein, sondern in anderen Dingen. Wenn ein Klima entsteht, dass die Leute hier alle auf sich selbst zurückwirft.
Hannes: Wenn's nicht aufgeht, wenn's nicht verstanden oder wenn's anders gesehen wird. Wenn man denkt, die «Heitere» ist ein super Projekt aber sich gleichzeitig von der Rolle verabschiedet, welche dieses Haus braucht. Wir sind ja ein Freundschaftsprojekt und eben bis heute kein Therapieangebot.
Gianna: Mir macht es Mühe hier, wenn ich meiner Krankheit verfalle. Wenn ich Symptome habe. Manchmal an Sitzungen kann das sehr anstrengend werden. Ich denke manchmal ich höre meinen Namen, wie er geflüstert wird. Das löst manchmal die Frage in mir aus, gehöre ich dazu oder nicht?
Ist die «Heitere Fahne» ein politischer Ort?
Gianna:Für mich ist mehr ein Kulturbetrieb, schon mit politischen Hintergründen, aber nicht so wie die Reitschule zum Beispiel.
Hannes: Wir versuchen nach aussen nicht wahnsinnig politisch aufzutreten. Wenn man es gesellschaftlich betrachtet, glaube ich stark, dass wir ein politisches Projekt sind. Im Sinne dass wir an eine Zukunft glauben, die wieder mehr Verantwortung den Menschen gibt und gleichzeitig zusammen vorgelebt wird, wo Leute auch mit anpacken können.
Mikosch: Die «Heitere» ist mit ihren Handlungen oft politisch. In Zeiten, in denen man sich sehr bedacht ausdrücken muss, ist es ein Ort, der damit spielt, ein Ort der Gratwanderungen.
Die «Heitere Fahne» zeichnet sich unter auch dadurch aus, dass hier Arbeit, Freunde, Familie, Ausgehen und auch Wohnen zusammenkommt. Wie funktioniert das?
Mikosch: Irgendwie funktioniert es, aber es führt auch immer wieder zu Fragen und zu Auseinandersetzungen. Aber auch zu Momenten, in denen man gemeinsam einen Weg findet. Ich sehe das kritisch, aber auch als Geschenk.
Hannes: Ich glaube, das ist so ein bisschen der Zauber dieses Projekts, den wir uns noch gönnen. Ich glaube, dass die Leute, die hier mitmachen, bereit sein müssen, «all in» zu gehen, wie wir dem hier sagen.
Wie hält man es aus, sich immer wieder mit der klammen finanziellen Ausgangslage auseinanderzusetzen?
Hannes: Indem man sich zum Teil betäubt, oder andere Projekte in den Vordergrund stellt. Die Emotionen, die hier mit an Bord sind, würden jegliches Theater sprengen. Ich verstehe gut, weshalb andere Häuser oftmals sehr hierarchisch sind, um genau diese Emotionen im Griff zu behalten. Bei uns haben die Emotionen hingegen Kultur, und wenn man sie zu einem Blumenstrauss bündeln kann, dann entsteht eben genau dieses befruchtende, welches dieses Haus auch ausstrahlt, diese Vielfalt und das Gefühl, das jeder einzelne eben ein wichtiger Teil sein kann. Wenn man aber hier nach einem halben Jahr abschuften dabei ist und es keine Ferien gibt, und immer noch neue Dinge dazukommen, dann wird es für gewisse Menschen schon sehr unangenehm, im Sinne von: Es reicht jetzt mal!
Die «Heitere Fahne» ist ein Ort, wohin jede*r ohne Leistungsdruck kommen kann. Sie ist aber auch ein Ort, der sehr auf Eigenleistung pocht.
Hannes: Das ist ein Paradox. Aber ich glaube die Leistung bei uns wird darin wahrgenommen, wie jemand eben leisten kann und nicht was er leisten kann. Dieses Haus ist nicht auf drei Menschen gebaut, das ist auf eine grössere Anzahl Menschen aufgebaut. Nicht zuletzt auch auf Menschen, denen die Leistung abgeschworen worden ist, im Sinne, dass sie eine Rente haben. Aber die machen einen mega wichtigen Job hier. Bei uns ist es eben ein bisschen anders mit der Leistung, wir verstehen uns hier als Freundschaft und wenn es einem gut geht, soll man dafür brennen, wenn es einem nicht so gut geht, soll man offen damit umgehen und auch seine Freiheiten und Bedürfnisse ganz klar anbringen.
Ist mehr Begegnung das, was wir brauchen?
Mikosch: Es ist sicher ein Ansatz. Begegnungsorte sind ja nichts Neues, die «Heitere Fahne» ist einfach eine Möglichkeit.
Hannes: Begegnung wird wohl nicht weniger wichtig werden, im Internetzeitalter und mit Grossanlässen, bei denen alle in eine Richtung gucken. Es sind schon viele Komponenten, die tatsächlich auch zum Austausch anregen in diesem Haus. Dieses Städtische, Schnelllebige, Vereinsamende, das hat es bei uns nicht. Obwohl wir eine grosse Beizenbar haben, glaube ich, ist es bei uns tatsächlich so ein Mix zwischen einer Art Landstube, Beiz und diesem modernen Suchen von jungen Menschen, alle in einem Familiy-Groove zu halten. Das ist schon spannend. Ich glaube tatsächlich, dass das Modell «Heitere Fahne» an Relevanz gewinnen könnte.
Motto «Futura Fantastica». Was wünscht ihr euch für die Zukunft?
Gianna: Dass Flüchtlinge in der Schweiz leben können, dass es in Bern nächstes Jahr nicht wieder ein Formel-E Rennen gibt, dass die Massentierhaltung aufhört. Dass Menschen, die eine Krankheit oder Beeinträchtigung haben, frei arbeiten können. Dass die «Heitere Fahne» weiterlebt und eben genau der Ort ist, für Menschen mit Beeinträchtigungen, oder mit einer Krankheit oder auch Flüchtlinge.
Mikosch: Die Zukunft ist etwas Unbekanntes. Ich kann nicht wissen, was kommt, nur eine Haltung einnehmen, wie ich darauf zugehe. Die «Heitere» entwickelt sich aus so vielen unterschiedlichen Aspekten und individuellen Wünschen.
Hannes: Zukunft heisst für uns zurzeit das Motto «Futura Fantastica - Wie wollen wir gelebt haben». Ein spannendes Thema. Ich glaube die Zukunft ist in der «Heitere Fahne» zurzeit sehr offen und sie kann ganz verschieden gut kommen. Ich glaube, dass wir unseren Weg finden, das Ding hier so weiterzumachen, wie wir es auch wirklich möchten.
Was nehmt ihr persönlich von der «Heitere Fahne» mit?
Mikosch: Es sind so viele Aspekte, es ist gewissermassen eine Prägung, die man hier kriegt. Von Freundschaft über Arbeit und Lebensfragen bis hin zu realistischen Ansätzen: Was heisst es eigentlich etwas zu machen, etwas umzusetzen? Und welche Kosten sind damit verbunden? Was ist ein realistischer Boden mit Hang zu Verspielt- und Verträumtheit?
Gianna: Den Service, die soziale Leistung, die wir anbieten für Menschen mit Beeinträchtigungen. Und ganz viele Ideen und Kreativität, wie man mit Leuten umgeht.
Wie wär’s mal mit...
Hannes: ...einer Party rund ums Thema der Sexualität? Beim Thema Sexualität nehme ich momentan gerade ganz, ganz viel Glück, aber auch Verstauchung und Krämpfe in unserer Gesellschaft war. Und es ist Sommer und geht durch die Badi und denkt: «He Freunde, ihr wollt es doch alle zusammen ein bisschen schön haben.» Aber wie schaffen wir es?
Gianna: ...ein Projektli in der Landwirtschaft.
Mikosch: ...einem Ausdruck des Lebens!
Vielen Dank an Hannes, Gianna und Mikosch für das ausführliche und spannende Gespräch.
_
von Christof Hofer
am 16.09.2019
Fotos
© Oliver Schmocker für Wie wär's mal mit
Wer die Bilder weiterverwenden möchte, muss sich die Rechte bei Wie wär’s mal mit einholen.