«Living Library»: Im Gespräch mit Emanuel Brito


Eine Bibliothek aus Büchern, die jedoch echte Menschen und ihre Geschichten sind. Bei «Living Library» sitzen Menschen gemeinsam auf Augenhöhe an einem Tisch und lassen sich lesen bzw. erzählen ihre persönliche Geschichte. Wir trafen Emanuel Brito, Mitwirkender bei «Living Library» und Mitglied beim «Verein AfroBasel» in seiner Mittagspause im Gottfried-Keller Schulhaus. Was uns Emanuel über sein Herzensprojekt zu erzählen hat, erfahrt ihr im Gespräch.


Lieber Emanuel, Bücher sind eine schöne Sache, schöne Begegnungspunkte. Du unterrichtest am Gottfried-Keller Schulhaus. Wie kamst Du zu deinem Beruf?
Ich selbst war nicht gerne Schüler. Mein beruflicher Werdegang als Lehrer hat sich deshalb relativ spät herauskristallisiert. Ich habe eine Aufnahmeprüfung an der FH gemacht undstudiert. Heute unterrichte ich Schüler*innen zwischen 8 und 12 Jahren, begleite sie also von der 4. bis zur 6. Klasse als Klassenlehrer in den Fächern Geschichte, Bio, Geo sowie Deutsch, Englisch, Französisch und Sport. In einer weiteren Klasse unterrichte ich als Fachlehrer Mathematik. Auch habe ich ein ganz eigenes Verständnis für das Klassenleben, für das Schüler*innen-Sein, unter anderem auch durch meinen Migrationshintergrund. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich arbeite, sondern eher, dass ich etwas mache, mit dem ich mich identifizieren kann und wo ich mit Herzblut dabei bin.

Was schätzt du an deinem Beruf?
Ich kann Bezugsperson für die Schüler*innen sein. also jemand, der sie ein Stück ihres Weges begleitet. Wir haben immer eine gemeinsame Verbindung. Mit meiner persönlichen Geschichte kann ich mit den Schüler*innen conntecten, weil ich mich mit ihrer Situation im jungen Alter und im eigenen Zuhause identifizieren kann. Dieses Eingehen einer menschlichen Verbindung schätze ich sehr an meinem Beruf.


Was ist deine eigene Migrationsgeschichte?
Ich bin zweisprachig aufgewachsen und ging auch immer wieder mit meinen Eltern und Geschwistern auf die Kapverdischen Inseln. Auf den Kapverden spricht man Portugiesisch bzw. Kreolisch, das ist ein Dialekt. Mir ist wichtig, beides zu schätzen: die Kultur, die wir hier in der Schweiz erfahren haben, aber auch diejenige, die wir mitgebracht haben.

Wie sieht dein Alltag als «Migrationskind» als Lehrer im Klassenzimmer aus? 
Meine Mehrsprachigkeit spielt eine wichtige Rolle. Beim Vermitteln von Inhalten an der Schule ist diese eine Stärke. Ich trete in den Klassenraum und unterrichte Deutsch, Englisch, Französisch aber auch andere Sprachen werden mit einbezogen. Wir benutzen auch Türkisch und Albanisch, um Deutsche Grammatik zu verstehen. Ich frage meine Schüler*innen, wieviel Sprachen sie sprechen. Dazu zählen auch Geheimsprachen oder ein Nachmittag, an dem sie Griechisch oder Arabisch lernen. Auch die Lehrmittel haben Fortschritte gemacht, indem sie Sprachvergleiche integrieren und man vermitteln kann, wie etwas in der eigenen Muttersprache ausgedrückt wird. Da fühle ich die Klasse sehr und ebenso einen Selbstwert für meinen eigenen Migrationshintergrund. Nur schon, wenn du Kindern Hallo in ihrer Sprache wiedergibst, ist ihre Reaktion unbeschreiblich. In dem Moment realisieren sie auch, dass ihr Hintergrund, ihre Sprache wichtig und auch interessant ist für die Schule. Es zählt nicht nur Deutsch, das hat auch die Vermittlung mittlerweile begriffen. Tolle Kinderbücher gibt es auch von arabischen oder afrikanischen Schriftsteller*innen. Das ganze ist inklusiv, weil auch das Interesse von Kindern mit Schweizer Muttersprache geweckt wird, sich für andere Sprachen zu interessieren.


Ziehst du dein Projekt «Living Library» mit in deinen Unterricht ein?
Wenn ich eine ältere Klasse hätte, würde ich es machen. In der Primarstufe mache ich dies lediglich auf einer philosophischen Ebene, etwa, dass wir über Stereotypen diskutieren. Wer hat welchen Beruf? Wie sieht die Person aus? Wem schreibt ihr welchen Beruf zu? Also Beurteilung nach Äusserlichkeiten. Ich erzähle auch von meinen eigenen Erfahrungen als Mensch mit Migrationshintergrund. Das schafft eine Verbindung zum Motto von «Living Library»: Don‘t judge a book by its cover, talk to it! Man ist nicht alleine mit dem Gefühl, dass man «gejudged» (Deutsch: verurteilt) wird. Nicht immer werde ich als Lehrer angesehen. Das ist auch ein Gefühl, das man aushalten muss. Nicht jede Person versteht das. 

Wenn es eine Form der Weiterbildung gäbe, interkulturelle Kompetenzen zu vermitteln, wie würde ein solches Format aussehen?
Wie folgt: Ich habe einen Koffer mit Büchern dabei, die diese Thematik behandeln sowie Anschauungsmaterial. Bei Radio X konnte ich einen Beitrag zu «Living Library» leisten, davon zeige ich dann Ausschnitte. Ich erzähle von meinen eigenen Erfahrungen. Ich bringe Menschen das «SAMSProjekt» (Ausstellung zur Mehrsprachigkeit der Schweiz) näher oder gebe Tipps, wie sich die Thematik innerhalb des Unterrichts und eigenen Alltags integrieren lässt.


Wo findet sich der Zündmoment vom Projekt «Living Library»? Waren dies die Black Live Matter Demonstrationen?
Die Geschichte von George Floyd ist der Moment, in welchem dieses Echo losgetreten worden ist. Für mich persönlich war es die Black Lives Matter Demonstration in Basel am 6. Juni 2020. Die Situation des Stillschweigens habe ich oft persönlich erlebt. Diese Demo traf den Nerv der Jugendlichen und man hat den Mut gespürt, Position zu beziehen. Ich war selbst lange genug still, und dieses Ereignis hat mein Feuer geweckt. Ich habe realisiert, dass ich diesen Mut und die Teilnahme an dieser Community brauche, in meiner eigenen Form, in meinem eigenen Format. So kann ich auch als Lehrer zum Thema beitragen. Afro Jugendliche mit einem natürlichen Stolz, stolz auf ihren Look, auf ihre Attitüde. Diese laute Stimme der Afro Jugendlichen ist noch nicht vorbei, sie ist nachhaltig, sie ist geblieben. Daraus hat sich für mich persönlich der Gedanke der «Living Library» ergeben. Ich wollte etwas Nachhaltiges schaffen, das über einen Hashtag hinausgeht.
Durch meinen Beruf als Lehrer hat sich auch ergeben, dass ich ein Format an der Schule vermitteln kann, das sich sowohl an Jugendliche wie auch Vermittelnde richtet. Ich konnte auch schon an der Fachhochschule im Rahmen eines Workshops «Living Library» vorstellen. Was mich auch sehr bestärkt, sind Anfragen von der Polizei oder Finanzunternehmen wie etwa UBS, die Interesse am Format bekunden und versuchen dafür Platz zu schaffen. Das Zentrale an «Living Library» ist das Fernab von Theorie oder Geschichte. Es geht um jeden Einzelnen als Buch, um eigene, persönliche Geschichten und den alltäglichen Umgang mit Formen von Diskriminierung. Das Relativieren, dieses «Nei, isch doch nid so schlimm», diese Art von Tischgespräch auf Augenhöhe gibt auch dem Buch, dem Mensch, den Wert, eben nicht zu verdrängen und das Gefühl seitens Leserschaft das Individuum und seine Geschichte anzunehmen, wahrzunehmen, ohne zu be- oder verurteilen.



Erzähl von dem ersten Event «Living Library»?
Ich habe sieben «Bücher», sieben Menschen und ihre Geschichten vorgestellt. Geschichten, die allesamt mit Rassismus oder Formen der Diskriminierung in ihrem Alltag Erfahrungen gemacht haben und diese Erfahrung auch teilen möchten. Wir sind ja immer noch Individuum mit eigener Hemm-Grenze, nicht alle möchten sich auch derart entblössen. Aber es kann helfen zu reden. Es kann auch helfen, nicht im eigenen Freundeskreis zu reden und diese Erfahrung öffentlich in einem geschützten Rahmen mit verschiedenen Menschen zu teilen. Es gab auch für mich einen Moment, in dem ich mir sagen konnte, das, was ich erlebt hatte, das war nicht okay. Rassimus ist nicht Teil des Lebens bzw. sollte nicht so sein. Es gibt bei « Living Library» immer Editorials als Einführung zu jedem «Buch», die vorne am Eingang platziert werden. Ich war nicht sicher, ob dieses Format im KLARA Anklang finden würde und war  vorbereitet frühzeitig den Abend zu schliessen. Jedoch war das Gegenteil der Fall, die Gespräche hätten bei weitem noch viel länger weitergeführt werden können als unsere Öffnungszeiten waren. Neben der «Living Library» gibt’s immer auch eine echte Bibliothek. Ich arbeite hierfür mit dem Verlag «Baobab Books» zusammen. Sie fördern vor allem Autor*innen aus Entwicklungsländern und haben Bücher, die interkulturelle Kompetenzen ansprechen. Es gibt also auch Bücher für Jugendliche, in denen Superheld*innen Schwarz oder eine Prinzessin von einer Prinzessin geküsst wird. Man kann entweder in Büchern des Verlages stöbern oder an den Tischen an Gesprächen mit Menschen teilnehmen. Es ist ein Augenblick, in dem du dich vielleicht traust unbequeme Fragen zu stellen, weil das erlaubt ist. Fragen, die du immer schon mal stellen wolltest, aber deinen Freund*innen nicht zumuten willst. Das Schöne: Es ist keine traurige Stimmung am Event, eine nachdenkliche, ja. Dadurch, dass die Gespräche auf Augenhöhe stattfinden, ist es immer eine Erzählung von Mensch zu Mensch und von dem, was sie zu diesem starken Mensch heute gemacht hat.


Keine Paneldiskussion, sondern Safe Space auf Augenhöhe. Wie hast du die «Bücher» am ersten «Living Library» ausgewählt?
Gäste wie die LGBTQ-Autorin Anna Rosenwasser, der Rapper und Musiker Black Tiger, Stand-up-Comedian Leila Ladari oder Merita Shabani von «BabaNews» mit einem Stand. Auch durch den «Verein Afro Basel», bei dem ich selber Mitglied bin, habe ich tolle Menschen getroffen, die teils zu meinem Freundeskreis gehören, hinter dem Projekt stehen und sich auch als Buch zur Verfügung gestellt haben. Der erste Event setzte sich mit Rassismus und Diskriminierung im Alltag auseinander. Egal, ob ich diskriminiert werde wegen meinem religiösen Hintergrund, meiner sexuellen Orientierung oder meiner Hautfarbe. Es geht nicht darum, dass eine Polizeigewalt einen Schwarzen misshandelt oder um Krieg, sondern es geht, um den eigenen Alltag. Im Übrigen: bevor ich mich dem Projekt gewidmet habe, musste ich auch mit mir selbst klarkommen, mich selbst fragen, welches sind meine eigenen Stereotypes? Auch ich bin trotz meiner Geschichte nicht befreit von Stereotypen. Das Projekt ist also auch Bewusstseinserweiterung für mich Selbst. «Living Library» heisst, versuchen unvoreingenommen mit offenem Ohr und Herzen zuzuhören. Natürlich kann es auch eine therapeutische Form annehmen, die Wunden heilen kann. Ich bin sehr daran interessiert das Format als Event oder als Weiterbildungsmöglichkeit auszubauen, mein Wissen austauschen, zu vernetzen und zu diesem Echo beizutragen.


Wie wär’s mal mit…
...einer Zusammenarbeit zwischen «Living Library» und dem «Verein Wie wär’s mal mit» oder einfach mit offenem Herz einander zuhören?


Vielen Dank für das Gespräch Emanuel. Emanuel Brito unterrichtet am am Gottfried-Keller Schulhaus und hat eine Arbeit über interkulturelle Kompetenzen geschrieben vor dem Aspekt einer Lehrperson mit Migrationshintergrund. Hier ist «Living Library» sonst noch ein Thema: Wanderausstellung «Mensch, Du hast Rechte!»Podcast bei Radio XVerein AfroBasel oder BabaNews.


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von Shirin Zaid
am 20.06.2022

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© Shirin Zaid für Wie wär's mal mit



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