Re-Designing Mental Health: Im Gespräch mit Zürcher Trendforscherin Angel Rio Schmocker

Immer häufiger mischen sich unter die geschönten, immer-perfekten Welten auf Instagram Inhalte, die das Gegenteil zeigen: Videos von weinenden Personen, Bilder aufgeritzter Arme oder verlaufener Schminke, ganze Texte und Geständnisse, wie schlecht es einem geht. Was hat das alles zu bedeuten? Genau hier setzt die Arbeit von Trendforscherin Angel Rio Schmocker an.


Liebe Angel, wer bist du und was machst du?
Ich bin wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut «Trends & Identity» an der Zürcher Hochschule der Künste. Mein Forschungsschwerpunkt beschäftigt sich mit der Frage, wie auf Social Media Mental-Health-Situationen inszeniert und gezeigt werden. Daneben arbeite ich als Nanny und als Freelancerin für Kampagnen.

Wie bist du auf das Thema Mental Health gekommen?
Ursprünglich war es das Thema meiner Masterarbeit im Master Trendforschung gewesen. Ich hatte mehrere Projektideen in der engeren Auswahl und beim Gespräch mit meiner Dozentin hat sich herausgestellt, dass das Phänomen von Menschen, die extrem emotionale und rohe Geständnisse sowie Bilder von sich teilen, noch weitestgehend unerforscht und auch unbekannt ist. Dieser Versuch, den Menschen zu erklären, was dieses Thema genau sein könnte und wie vielschichtig es ist, wurde schliesslich zum roten Faden für meine Masterthesis. Es ist ein Thema, das mich auch persönlich sehr interessiert.


Inwiefern hast du einen persönlichen Bezug zum Thema?
Ich habe selbst lange Zeit unter Depressionen und Angststörungen gelitten, teilweise leide ich heute noch daran. Und ich denke, dass die psychische Gesundheit etwas ist, das alle Menschen betrifft – genauso wie die physische. Wahrscheinlich kennt jede*r eine Person, die schon extremere Momente mit seiner psychischen Gesundheit durchlebt hat oder ist selbst schon an einem solchen Punkt gewesen. Jede*r hat auf irgendeine Art Erfahrung mit diesem Thema und das macht es persönlich.

Deine Masterthesis trägt den Titel «Sick Style – Welcome to the New World of Sadness». Was verstehst du unter «Sick Style»?
«Sick Style» kommt von unserem kürzlich abgeschlossenen Trendmapping. Wir haben versucht, sogenannte Health Styles – also Trends im Bereich Gesundheit – abzubilden. Das passende Gegenstück dazu sind die «Sick Styles». Wenn alle gesund bleiben und nur noch die schönen Seiten zeigen wollen, wo hat da noch das Kranke Platz? Wo zeigt sich das Unperfekte, das Unschöne? Deshalb der Begriff. Man kann sich die «Sick Styles» wie eine Skala oder ein Fadenkreuz vorstellen: Es gibt auf der einen Seite ganz extreme Geständnisse und Bilder, die Leute aus der Klinik posten. Auf der anderen Seite existieren aber auch sehr herzige und aufmunternde Inhalte, die einem ein gutes Gefühl geben, zeigen, dass man nicht alleine ist und auf eine Entstigmatisierung ausgerichtet sind. Dazwischen liegt ein ganzes Spektrum.


Du hast dieses «Kranke» gefunden. Welches sind die dominierenden Themen?
Mit dieser Frage beschäftigen wir uns zu einem grossen Teil in unserer aktuellen Forschung. In einem ersten Teil wollten wir verstehen, wie vielschichtig das Thema ist. Dann haben wir versucht, in einem Trendreport für die Gesundheitsförderung übergreifende Motive zu identifizieren. Einer der zentralsten Punkte ist die Fluidität – es geht nicht mehr nur noch alleine um Mental Health. Da gibt es feministische Communities, diejenigen, die sich mit Klima-, Nachhaltigkeitsthemen, Veganismus oder der Politik beschäftigen. Zunehmend geht es um die Fragen, wie man ein gutes und gesundes Leben führen kann, wie man ein guter Mensch in dieser Welt ist und auf welche Art man «Awareness» betreiben kann. Das ganze Spektrum vom Menschsein wird angesprochen und Mental Health ist ein grosser Teil davon.


Kannst du ein Beispiel für übergreifende Motive in Zusammenhang mit Mental Health nennen?
Das ist der Fall, wenn etwa eine Person Probleme mit ihrer Psyche hat, weil sie als Frau sexuell belästigt wurde oder wenn man als Frau am Arbeitsplatz nicht ernst genommen wird und darum an «Social Anxiety», sprich einer sozialen Angststörung leidet. Weiter gibt es Teenies, die in Social Media Posts erzählen, dass sie «Anxiety» und Depressionen haben, weil sie mit einem sterbenden Planeten keine Zukunft sehen.

Wie sieht es mit den Grenzen von analogem und digitalem Leben aus?
Auch das digitale Ich und das analoge Ich werden nicht mehr gross voneinander unterschieden, vor allem nicht bei den «Digital Natives». Früher sagten die Leute noch: «Ich gehe ins Internet», heute macht man das nicht mehr, du bist im Internet, das Internet ist bei dir. Das ist eine der Schubladen, auf die wir in unserem Projekt gestossen sind. Man ist im Internet oder nicht, spricht über Mental Health oder nicht, aber tatsächlich sind das Grenzen, die nicht mehr existieren.


Deine Forschungsthemen sind in der Gesellschaft oft stigmatisiert, teilweise sogar tabuisiert. Warum ist es wichtig, mehr über dieses Thema herauszufinden und es mehr zu thematisieren?
Um den Leuten zu zeigen, dass es anderen auch so ergeht wie ihnen. Das ist wie mit Allem, über das man nicht redet; ist man anders, hat man das Gefühl, komisch zu sein, weiss nicht, an wen man sich wenden kann und traut sich auch nicht. Dabei trägt nur schon das Wissen, dass es Anderen auch so gehen kann, enorm zur Normalisierung bei. Diese Dinge erfährt nicht nur ein kleiner Prozentsatz der Menschheit, sondern es betrifft jede Person. Denn früher oder später hat jeder einmal eine Krise oder eine schlechte Phase – egal ob Trennung, Seasonal Depression Burnout oder einfach nur ein schlechter Tag. Diese Dinge sind ganz normal, sie sind Zeichen von Entwicklung.

Hat sich auch die Art und Weise geändert, wie über Mental Health gesprochen wird?
Meiner persönlichen Einschätzung nach hat sich in der Schweiz noch nicht viel verändert. Hierzulande ist es immer noch eine Seltenheit, wenn Personen sagen: «Hey, ich gehe heute in die Therapie». Das haben uns auch die befragten Teenager bestätigt. Untereinander sprechen sie oft und offen über ihre Probleme, mit den Eltern aber haben sie weitaus mehr Mühe.

Warum haben betroffene Personen Mühe über ihre Probleme zu sprechen?
Sie haben Angst davor, die Eltern könnten sie dann als Problem ansehen. Sie wollen nicht als die Person definiert werden, die psychisch krank ist, oder allein auf dieses Merkmal reduziert werden. Diese Trennung ist einer der Gründe, aufgrund dessen wir annehmen, dass es so stark in den sozialen Medien stattfindet. Im analogen Leben gibt es noch nicht so viel Platz für Mental-Health-Themen, im digitalen dafür umso mehr.


Welche Rolle spielen dabei die sozialen Medien?
Je aktueller und präsenter ein Thema ist, desto mehr wird dazu geforscht und desto mehr Fördergelder fliessen. Und mit mehr Forschung gibt es auch mehr Beratungsstellen, die Leute wissen, wo sie sich informieren können, das trägt alles zur Normalisierung des Themas in der Bevölkerung bei. Und genau hier können die sozialen Medien Enormes leisten, indem sie den Themen eine niederschwellige Plattform geben, auf der man einfach mit Inhalten konfrontiert wird, auf Bild- wie auf Textebene. Diese Mischung ist es auch, die Instagram so attraktiv macht. Mit Wort, Bild und Video können emotionale Inhalte sehr intensiv dargestellt werden, die Message kommt besser an.


Wer sind diese Personen, die auf Social Media über ihre Probleme sprechen?
Personen aus allen sozialen Gruppen. In unserem Forschungsschwerpunkt haben wir uns auf Jugendliche konzentriert. Bei unserer Analyse von YouTube und Instagram ist uns jedoch aufgefallen, dass sich die ganze Bandbreite zu Mental-Health-Themen äussert; vom Bauarbeiter*innen über alte wie junge Frauen, Männer, Transgenderpersonen, Deutsche, Schweizer*innen, Australier*innen, Engländer*innen. Oft hat man die Neigung, nur von den jungen Leuten zu sprechen, weil es die Neuen Medien sind und weil man bei jungen Menschen Trends besser analysieren kann. Defacto sind es aber alle.

Gibt es so etwas wie einen guten Umgang mit Social Media?
Ja, etwa das Buch «Teen Mental Health in an Online World: Supporting Young People around their Use of Social Media, Apps, Gaming, Texting and the Rest», in dem die Autoren eine Art Regelkatalog vorstellen – die Idee ist, die Jugendlichen in ihrem Umgang zu unterstützen, statt ihnen Social Media zu verbieten. Weiter erklären sie, was die Gefahren sind und zeigen auf, was alles passiert und passieren kann, wenn man online ist.


Was kann eine Hürde sein, über psychische Probleme in der analogen Welt zu sprechen?
Eine Jugendliche, die wir für unser Projekt befragt hatten, sagte uns, dass es für sie unmöglich wäre, mit ihrem Vertrauenslehrer oder dem Schulpsychologen über ihre Anorexie zu sprechen, wenn diese nicht mal wissen, was Instagram ist und auch kein Social Media nutzen. Denn die ganzen Thinspo- (Mischwort aus Engl. thin = dünn und Inspiration) und Triggerinhalte, die ihre Essstörung beeinflussen, befinden sich auf diesen Kanälen. Es mache also keinen Sinn, über etwas zu sprechen, dass der einen Person zuerst noch erklärt werden muss.

Gab es auch schon Momente, an denen du selbst mit deiner Arbeit aufhören wolltest?
Ja. Bei meiner Masterthesis war es noch nicht ganz so schlimm, da war ich noch distanzierter. Und da ich etwas in einem Fachkontext analysieren will, gelingt es mir auch oft, diese Distanz zu wahren. Die Befragungen in unserem letzten Projekt fanden als narrative Einzelinterviews statt. Das geht einem dann schon sehr nahe, wenn man zwei Stunden mit einer Person über ihre Probleme spricht, und das mehrere Male. Auch sehr intensiv war die Erstellung des Quellenverzeichnisses für unseren Trendreport: Da die Inhalte der Bilder, die ich selektierte, so persönlich waren, musste ich mehrmals Pausen einlegen.


Und was gefällt dir besonders gut an deiner Arbeit?
Die Verbindung von allem. Mir gefällt das Visuelle, die Sprache und auch die Themen sagen mir zu, da es mich ja auch persönlich betrifft. Und da es eine Art Neuland ist, kann man enorm experimentieren, das motiviert.

Du hast das Projekt Ende September abgeschlossen. Woran wirst du als nächstes forschen?
Für uns stellte dieses Projekt eine Art Grundlagenforschung dar. Jetzt wird es mehr in Richtung angewandte Forschung gehen, wo wir uns auf einen Aspekt vertiefen werden. Wohin es genau gehen wird, kann ich noch nicht sagen. Klar ist, dass das ganze Team nach den Befragungen und Mappings sich sehr auch auf den gestalterischen Aspekt freut, schliesslich kommen wir ja aus dem Design.


Nun zu dir: Hast du einen Lieblingsort in Zürich?
Ich finde es in Wiedikon unglaublich toll. Das Quartier hat gute Vibes, auch weil in den letzten Jahren viele meiner Kollegen hierher gezogen sind. Ansonsten mache ich gerne Spaziergänge beim Sihlhölzli am Wasser oder in der Laubegg.

Gibt es eine Bar, in der man dich spontan mal antreffen könnte?
Zurzeit bin ich sehr oft im Acid an der Langstrasse, da fast mein halber Freundeskreis in dieser Bar arbeitet.

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...mehr Ruhe?



Vielen lieben Dank an Angel für das tolle Gespräch und die Einblicke in ihre Welt.


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von Valérie Hug
am 04.11.2019

Fotos
© Marcos Pérez für Wie wär's mal mit


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