Seebrücke Schweiz: Im Gespräch mit Marco Müller

Hilfsorganisationen wie «Seebrücke Schweiz» leben Solidarität und helfen Menschen in Not. Das Coronavirus kennt keine ethnische Herkunft und ist deshalb plötzlich wichtig und betrifft alle. Doch die Welt hat wichtigere Themen, die von der Gesellschaft und den Medien komplett ignoriert werden. Wir trafen Marco Müller und sprachen mit ihm über humanitäres Handeln und Denken. 


Lieber Marco, wer bist du und was bewegt dich im Leben?
Ich habe eine Lehre als Maschinenbauzeichner gemacht und drei Jahre  auf diesem Beruf gearbeitet. Irgendwann hatte ich genug vom Büroalltag, begann mit der Berufsmaturitätsschule und legte mir einen Nebenjob zu. Nebenbei fing ich an Musik zu machen. Nach der Berufsmaturität ging ich auf ein ziviles Seenotrettungsboot der deutschen NGO «Sea-Eye».
Ich hatte einfach spontan Lust, etwas anderes im Leben kennenzulernen und  etwas zu bewirken. «Sea Eye» war  damals eine von drei deutschen NGOs die ein Schiff besassen und sie haben mich dann genommen, dank meiner technischen Ausbildung.


Woher rühren dein Engagement und Wille an humanitären Projekten mitzuwirken?
Ich komme aus einem eher konservativen Elternhaus mit einem sehr hohen Gerechtigkeitssinn. Dieser hat seinen Ursprung nicht im Politischen, sondern vielmehr im Christentum. Ich habe mich zwar schon längst davon distanziert, der Gerechtigkeitssinn lebte jedoch weiter. Nach der Berufsmaturitätsschule wollte ich nun etwas machen, was mir mehr Sinn im Leben gibt. So kam ich zu «Sea Eye» und später dann zu «Seebrücke Schweiz».


Was ist die «Seebrücke Schweiz» und wie kamst du dazu?
Als ich zurück in die Schweiz kam, wollte ich auch von hier aus weiterhin bei humanitären Projekten mitwirken und mich engagieren. Die Schweiz ist als Binnenland eher zurückhaltend, was humanitäre Hilfe für Menschen in Seenot angeht. «Seebrücke Schweiz» existiert erst knapp seit 2019, in Deutschland gibt es die Organisation «Seebrücke» schon länger. Ich wurde 2019 auf Umwege und mein Netzwerk darauf aufmerksam, dass  die Seebrücke Schweiz gegründet wurde und bin sehr froh darüber mitwirken zu dürfen. Wir sind ein aktives Team von knapp 15 Leuten schweizweit. Es ist wichtig, dass es in jeder Schweizer Stadt Mitwirkende gibt.


Was machst du sonst noch im Leben?
Ich bin Velokurier und Disponent bei der Kurierzentrale Basel und sichere mir damit mein Einkommen, um Miete zu zahlen etc. nebst meinen ehrenamtlichen Tätigkeiten. Als Musiker bin ich immer noch hin und wieder tätig und spiele beispielsweise in der Liveband von «The Night Is Still Young».

Was war bisher in deiner ehrenamtlichen Tätigkeit für dich der schönste bzw. der traurigste Moment?
Mein traurigster Moment? Wir durften aus politischen Gründen mit dem «Sea Eye» Schiff nicht ablegen und mussten täglich lesen, wieviele Menschen auf See verstorben sind. Diese Hilfe gesetzlich unterlassen zu müssen war sehr erschütternd. Der schönste Moment? An meiner Tätigkeit finde ich es wichtig, geflüchteten Menschen ein Stück Alltag zurückzugeben und mit ihnen auf Augenhöhe zu kommunizieren. Ich half in Paris bei «Paris Refugee Ground Support» mit. Die meisten  geflüchteten Menschen müssen nach Paris, um ihr Asylgesuch zu stellen. Geflüchtete Menschen, die in ein anderes Land kommen, freuen sich darüber, nicht immer über das reden zu müssen, was sie Schlimmes erlebt haben. Ich versuche immer, ihnen einen Alltag zu bieten und sehr persönlich bei ihnen zu sein. Es überwindet auch das ausgrenzende «Ich helfe dir». Helfen soll auf Augenhöhe von Mensch zu Mensch passieren.


Wieso ist es relevant, dass es in der Schweiz Hilfsorganisationen gibt?
Die Schweiz ist immer ein wenig besonders in gewissen Themen. Man sieht dies auch z.B. an der Abstimmung «Ja zum Schutz vor Hass». Allein, dass es Schutz braucht und man überhaupt über so etwas Grundsätzliches abstimmen muss, ist ein sehr armes Zeugnis der Gesellschaft. Aber der Diskurs über solche Themen ist relevant, man muss diesen öffentlich führen, damit man etwas erreicht. Viele Menschen haben Angst, weil solche Themen auch Veränderung bedeuten. Die Schweiz ist zudem nicht in der EU und hält sich so aus der ganzen Seenot-Debatte gekonnt heraus. Als Binnenland fühlt sich die Schweiz nicht betroffen oder verantwortlich. Alle haben das Gefühl, dass es niemanden etwas angeht. Die Schweizer Medien berichten nicht ausführlich über solche Themen oder nur kurzfristig und lassen diese dann versanden. Es ist wichtig, dass man auch in der Schweiz darauf aufmerksam macht.
Wie man am Beispiel Coronavirus sieht. Das Coronavirus kennt keine ethnische Herkunft und ist deshalb plötzlich wichtig und betrifft alle. Wenn es aber um das Sterben von Menschen auf den Mittelmeeren geht, sind es eben nicht Schweizer*innen, die sterben oder flüchten und man ignoriert die Thematik in der Gesellschaft und den Medien.


Wo in Basel oder in der Schweiz empfindest du persönlich die höchste Form von Solidarität und Toleranz?
Man muss hierzu sagen, ich bin in einer sehr privilegierten Position. Ich bin männlich, weiss und finanziell abgesichert. Von dem her habe ich nicht viele Orte, wo ich hingehe und Angst haben muss und stosse persönlich selten auf Intoleranz oder fehlende Solidarität. In Basel als Stadt erlebe ich Solidarität auf unterschiedliche Art und Weise. So auch im engeren Freundeskreis, wenn jemand gesundheitlich oder mental in einer schlechten Verfassung ist. Da kommen Freund*innen zusammen, man hilft sich in schweren Zeiten. Man lebt jedoch hier immer ein wenig in einer Bubble, in der Schweiz und vor allem in Basel. Basel ist politisch eher links positioniert und liberal im Vergleich zu anderen Teilen der Schweiz. Die Basler Fasnacht 2020 wäre spannend gewesen, weil diese immer schwierige Themen aufgreift und man darüber redet. Den Diskurs zu führen finde ich essenziell.


Wie definierst du Humanität?
Humanitäres Handeln sollte vor allem bedingungslos sein. Mensch ist Mensch. Wenn sich eine Person auf offener See in Gefahr befindet und in einer lebensbedrohlichen Lage, spielt es keine Rolle, ob diese aufgrund einer Kriegslage geflüchtet ist oder was die Motivation, Hautfarbe oder der Kontext dieser Person ist. Was zählt ist, dass ein Mensch in Gefahr ist und man diesem helfen soll. Es geht ausschliesslich um das Wohlergehen dieser Person. 

Wie äussert sich Solidarität deiner Meinung nach und wie kann jede*r von uns einen Teil dazu beitragen?
Solidarität passiert in kleinen Momenten. Es braucht immer Menschen, die Menschen helfen. Alle können in ihrem Rahmen das machen, wozu sie fähig sind, körperlich und auch psychisch. Humanität kann man im Alltag leben, sie findet beim Einkauf in der Migros sowie in Katastrophensituationen statt.


Welche Rolle spielen weltweite Medien beim Informieren über Krisenlagen? Auf welche Plattformen vertraust du oder kommunizierst du selbst Inhalte?
Ich lese die grossen News Medien nicht wirklich und habe auch kein Facebook oder Instagram. Selber habe ich am liebsten faktenbasierte Statistiken z.B. von der UNO und mache mir damit mein eigenes Bild oder vertraue diesen mehr als Berichterstattungen. Ich folge hauptsächlich auf Twitter Menschen, die selber vor Ort in Krisensituationen sind, die ich kennengelernt habe und denen ich vertraue. Wahrheitsgetreue Information ist heute natürlich schwierig geworden. Die Themen sind komplex, es gibt viel Angstmacherei und Feindbilder werden geschürt. Die Algorithmen in den Sozialen Medien sind heute auch so, dass einem nicht alles ausgespielt wird. Ich gebe mir da Mühe, um auch diese Infromationen im Auge zu behalten und selber zu sehen, was gerade an  Inhalt produziert wird in der Welt. Oft ist das auch die Bestärkung der Meinung der Masse oder das, was die Masse gerade erreicht und betrifft.


Wenn du das Wesen des Menschen einem Alien beschreiben müsstest, wie würdest du es beschreiben?
Der Mensch ist sehr neugierig aber hat auch sehr viel Angst. Er kann richtig grausam und brutal sein, jedoch auch Tolles und Grossartiges bewirken, wenn er es schafft seine Ängste abzulegen. Der Mensch ist fähig dazu, wunderbare Taten zu vollbringen, genauso wie er dazu fähig ist, grausame Dinge zu machen, aus unterschiedlichen Gründen.

Was würdest du unseren Leser*innen gerne mit auf ihren Weg geben?
Be Good im Alltag und im Rahmen deines Möglichen. Falls Menschen sich dazu bewegt fühlen, bei der «Seebrücke Schweiz» mitzuwirken, sind diese herzlich willkommen. Gerne jederzeit via schweiz@seebruecke.org melden.

Wie wär's mal mit…
...Solidarität.



Wir danken Marco für die schönen Worte und die Relevanz von Solidarität auch im Alltagsleben.


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von Ana Brankovic
am 16.03.2020


Fotos
© Niels Franke für Wie wär's mal mit


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