Universität Basel: Im Gespräch mit Sprach- und Literaturwissenschaftlerin Anna-Christina Chatzinikolaou

Covid-19, Social Distancing und #Staythefuckhome sind wohl schon jetzt die Wörter des Jahres 2020. Doch wie wirkt sich die Situation auf die Literatur aus? Wie prägt die Sprache und Kommunikation unsere Wahrnehmung? Wir sprachen mit Anna-Christina Chatzinikolaou, Doktorandin in Sprach- und Literaturwissenschaften an der Universität Basel.


Liebe Anna, wer bist du, was ist deine grösste Macke?
Ich bin Doktorierende an der Universität Basel im Bereich Literaturwissenschaft. Momentan untersuche ich die deutschsprachige Gegenwartsliteratur in Bezug auf Autofiktion und Krankheitsnarrative, das heisst, ich beschäftige mich mit Texten, in denen Autor*innen (vermeintlich) über ihre eigenen Krankheitserfahrungen berichten. Deshalb werfe ich momentan einen gezielteren Blick auf die literarische Verarbeitung von Themen wie Krankheiten, Therapiemethoden und auch Tod. Meine grösste Macke ist wohl, dass ich den letzten Schluck Kaffee immer in der Tasse lasse.


Wie verändert Covid-19 die Literatur im 2020? Wird das ein neues Genre?
Als «Buch der Stunde» wird momentan Albert Camus «Die Pest» (1947) genannt. Mittlerweile wird die 90. Auflage gedruckt (deutsche Übersetzung), weil es überall ausverkauft ist. Bei Verschwörungstheoretiker*innen ist «The Eye of Darkness» von Dean Koontz sehr angesagt, da hier von einem Virus mit dem Namen «Wuhan-400» die Rede ist. Ganz allgemein spriessen gerade «Corona-Tagebücher» auf sämtlichen Plattformen und Medien. Für viele, egal ob Laie oder Schriftsteller*in, stellt Schreiben momentan eine Möglichkeit dar, mit der Situation besser klar zu kommen. Da Covid-19 jeden Bereich unserer Gesellschaft betrifft, wird das Virus aus sämtlichen Perspektiven und von sämtlichen Forschungsbereichen durchleuchtet, was zur Folge hat, dass der Buchhandel in den kommenden Wochen und Monaten von «Corona-Büchern» überflutet werden wird.



Egal ob fiktive Romane oder eben essayistische und wissenschaftliche Texte. In der Belletristik ist bereits von einer sogenannten «Pandemieliteratur» die Rede. Ich frage mich aber, ob in ein paar Monaten, wenn sich die Situation hoffentlich wieder beruhigt hat, wirklich noch so grosses Interesse vorhanden sein wird, um sich nach all diesen langen und schwierigen Wochen, in denen man selbst direkt oder indirekt davon betroffen war, nochmals damit aus reinem Unterhaltungsfaktor beschäftigen möchte.


Welche Beispiele in Sachen Corona-Literatur fallen dir ein, weshalb sind diese relevant oder auch nicht?
Wenn ich es richtig verfolgt habe, dann ist Paolo Giordano einer der ersten bzw. der schnellste gewesen, der seine Gedanken in Buchform veröffentlicht hat. «In Zeiten der Ansteckung» ist eine Chronik des Lockdowns, vor allem dessen in Italien, und der Versuch, schriftlich das festzuhalten, was gerade auf der ganzen Welt passiert. Hier in der Schweiz gibt es das tolle Magazin «Stoff für den Shutdown», welches Benjamin von Wyl und Daniel Kissling in kürzester Zeit herausgegeben haben. Darin enthalten sind Texte verschiedenster Autor*innen der Schweiz, wie beispielsweise Anna Stern und Daniel Mezger. Zum einen ist das natürlich eine wunderbare Gelegenheit, Kulturschaffende in dieser Zeit zumindest ein wenig zu unterstützen, zum anderen geben diese Texte Einblick in die momentane Situation. 


Für das Aargauer Literaturhaus schreiben Dorothee Elmiger, Peter Stamm und Monica Cantieni Tagebuch. Auch das Literaturhaus in Graz veröffentlicht jeden Freitag «Corona-Tagebücher», in denen österreichische Autor*innen ihre Ansichten teilen. Weitere Tagebücher, die ich persönlich als relevant empfinde, sind unter anderem auf dem Blog «54books» erschienen. Das Journal von Carolin Emcke in der Süddeutschen Zeitung und der fiktive Roman «So ist die Welt geworden» von Marlene Streeruwitz. Solche Texte sind insofern relevant, weil sie die aktuelle Situation aufgreifen.



Spannend hierbei ist zum einen, dass die meisten verfassten Texte als sogenannte «Ego-Dokumente» bezeichnet werden können, da viele aus der eigenen Perspektive schreiben und ihre Beobachtungen, Erfahrungen, Ängste und Empfindungen festhalten. Genres wie der Tagebucheintrag oder auch Brief- und Fortsetzungsroman werden plötzlich wieder aktuell. Auch die Betrachtung des zeitlichen Aspekts ist spannend. Der Akt des Schreibens ist als Versuch zu betrachten, das Gegenwärtige festzuhalten. Aufgrund der momentanen Schnelllebigkeit bzw. Veränderungen der Situation, verlieren die Texte aber sehr schnell an Aktualität. Was einem vor einer Woche noch grosse Angst gemacht hat, nimmt man heute eventuell schon mit einer Selbstverständlichkeit an. Hier ist beispielsweise eine grosse Parallelität zur Popliteratur erkennbar, deren Autorinnen und Autoren auch gerne als «Archivisten der Moderne» bezeichnet wurden und ihre Verfahrensweise als «Mitschreiben der Gegenwart». Das passiert jetzt gerade eben auch. Vielleicht erscheinen uns solche Texte momentan noch eher ungeordnet oder auch zerstückelt. Aber schaut man sich die Texte in einiger Zeit mit einer gewissen Distanz nochmals an, so wird aus literaturwissenschaftlicher Perspektive ein grosses Ganzes erkennbar.



Social Distancing, #Staythefuckhome, Infizierte, Erkrankte, Geheilte, an Folgen von Corona verstorben: Welche Rolle spielt die Sprache bzw. Kommunikation bei der Veränderung der Gesellschaft? Hätte man die gleiche Situation auch anders formulieren können, wie?
Rhetorik und Sprache sind für die Kommunikation der Regierungen in Krisenzeiten wichtige Aspekte und natürlich auch ein Mittel der Macht. Bewusst eingesetzte Sprache kann Ängste schüren, Hysterie auslösen, aber auch zu Solidarität und gegenseitigem Verständnis auffordern. Wirft man einen Blick auf die Reden der verschiedenen Politiker*innen, fallen einem grosse Unterschiede auf. Während Macron Kriegsmetaphern verwendet, spricht Trump mit einem rassistischen Unterton vom «Chinese Virus». Sicher ist nicht allen Politiker*innen eine fehlerfreie Kommunikation gelungen.


Auch Bundesrätin Karin Keller-Sutter hat bereits Fehler bei der Kommunikation eingestanden. Menschen machen nunmal Fehler, aber das Gute ist, man kann aus ihnen lernen, wenn man bereit dazu ist. Um die Bevölkerung zu motivieren, haben sich Aussagen wie «Flatten the curve», «Stay the fuck home» und «Social Distancing» wie ein Lauffeuer verbreitet und sich schnell in unseren Köpfen breit gemacht und sich in unseren Wortschatz eingeschlichen. Auch noch in einigen Jahren werden wir diese Aussagen direkt mit Corona in Verbindung bringen. Hierzu wird die Sprachwissenschaft sicher ausreichend forschen.



Wie gehst du mit der Covid-19 Situation in deinem Alltag um? Wie beeinflusst es dein Leben direkt bzw. indirekt?
Anfangs hat mir die Situation ehrlich gesagt grosse Angst gemacht. Die Unklarheit und Ungewissheit fand ich persönlich am Schlimmsten. Vor allem machte und mache ich mir grosse Sorgen um meine Familie und meinen Freundeskreis in Deutschland und Griechenland. Aufgrund der Grenzschliessungen ist es logischerweise schwieriger geworden, sie alle physisch zu sehen und zu besuchen. Die meisten Freizeitaktivitäten wie Museumsbesuche, Kino, Konzerte, Kafi trinken gehen, fallen für mich, wie für alle anderen auch, natürlich weg. Was meine Arbeit betrifft, gab es für mich, ausser die Umstellung auf Home Office, keine grösseren Veränderungen.


Du machst im Kontext deines Doktorats an der Universität Basel diverse Seminare unter anderem zu «Medical Humanities». Was ist das, worum geht's da?
Die «Medical Humanities» sind ein Forschungsfeld, in welchem die Geisteswissenschaften und die Medizin interdisziplinär agieren. In Basel gibt es den Bereich seit 1998. Angegliedert an die Ausbildung der Medizinstudierenden, sollen durch den Austausch und den Input der Geisteswissenschaften (Literatur, Kunst, Film, etc.) eine neue Perspektive beziehungsweise ein anderer Zugang zum Medizindiskurs und zum Gesundheitswesen eröffnet werden. Die Studierenden können durch die Auseinandersetzung mit individuellen Fallgeschichten von Patient*innen dazu angeregt werden, ihr Handeln und insbesondere ihr Verhältnis zu ihnen zu reflektieren.


Nicht mehr nur die Krankheit an sich soll im Fokus der Behandlung stehen, sondern auch das Leid und die individuellen Bedürfnisse von Patient*innen.
Im Herbst 2020 darf ich gemeinsam mit meinem Betreuer Prof. Dr. Alexander Honold (Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Universität Basel) und Prof. Rainer Schäfert (Chefarzt Psychosomatik, Universitätsspital Basel) erneut neben einem Seminar auch eine Vortragsreihe zum Thema «Medical Humanities» für Literatur- aber auch für Medizinstudierende anbieten. Sowohl somatische, als auch psychische Krankheiten stehen dabei im Mittelpunkt der Analyse. Aufgrund der Aktualität ist dieses Mal auch ein Themenblock zu Covid-19 geplant. Wir laden Autor*innen ein, die über ihren Text und ihre Krankheitserfahrungen sprechen.


Im Anschluss daran wird dann jeweils aus medizinischer und literaturwissenschaftlicher Perspektive die Krankheit bzw. der Text durchleuchtet, um in einem letzten Schritt eine Diskussionsrunde zu eröffnen, in welcher die Studierenden die Möglichkeit bekommen, in einem sicheren und geschützten Kontext ihre Fragen, ihre Bedenken, Anregungen und Wünsche zu äussern. Ziel neben der gemeinsamen Analyse und Auswertung der literarischen Fallgeschichten ist es ausserdem, sich gegenseitig die Perspektiven der jeweiligen Fachrichtung näher zu bringen und auf diese Weise interprofessionelle Ergebnisse festzuhalten. Die Veranstaltungen sind so angelegt, dass den Medizinstudierenden ein Transfer aufgezeigt wird, von dem sie in ihrem späteren Klinik-Alltag profitieren können.


Was bedeutet Solidarität für dich im Alltag?
Füreinander da sein, sich gegenseitig helfen, unterstützen und respektieren.


Welche positiven bzw. negativen Seiten hat die jetzige Krise?
Es ist schön zu sehen, dass der Mensch sehr wohl in der Lage ist, Verzicht zu üben, beispielsweise was Flugreisen angeht, zumindest für einige Zeit. Auch positiv finde ich, wie kreativ manche Menschen plötzlich werden und durch welche Ideen sie unseren Quarantänealltag verschönern. Als negativ empfinde ich natürlich wie wohl alle anderen auch das «Social» und «Physical Distancing», aber da müssen wir jetzt eben durch.


Wenn du dir etwas für die Menschheit wünschen könntest, was wäre das und weshalb?
Am liebsten wäre mir Gesundheit für alle. Aber da das utopisch ist, wäre es schön, hätte jeder Mensch auf dieser Welt Zugang zu einem gut funktionierenden Gesundheitssystem, um die Hilfe zu bekommen, die er dringend benötigt – auch das ist utopisch, ich weiss.

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Vielen Dank an Anna für die interessanten Erkenntnisse und Beispiele in Sachen Literatur, Kommunikation und Medien in Zeiten von Covid-19.


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von Ana Brankovic
am 18.05.2020


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