Universität Basel: Philipp Hänggi über das Projekt «Human Sociality in the Age of Covid-19»

Wie werden unsere sozialen Interaktionen durch Social Distancing in Zeiten von Covid-19 beeinflusst? Philipp Hänggi ist in Rahmen seines Doktorats an der Philosophischen Fakultät der Universität Basel Teil des Forschungsprojektes «Human Sociality in the Age of Covid-19 – How people (dis)engage in social interaction» bei Prof. Dr. Lorenza Mondada. Gemeinsam mit einem Team an Sozialwissenschaftler*innen untersuchen sie, wie alltägliche, soziale Begegnungen vom Coronavirus geprägt werden. Welche alternativen Formen von Begrüssungen gibt es? Weshalb unterstreicht Solidarität den wichtigen Unterschied zwischen «social» und «physical» Distancing? Philipp erzählt uns dies in einem Gespräch.


Lieber Philipp, wer bist du? Was ist deine grösste Macke?
Ich habe vor einem halben Jahr mein Doktorat im Departement für Sprachwissenschaften an der Universität Basel in Angriff genommen. Ich schätze mich sehr glücklich, Teil eines dank Professorin Lorenza Mondada weltweit renommierten Teams in Interaktionsforschung zu sein. Ich muss eingestehen, dass ich mich öfter als gewollt in Situationen wiederfinde, in denen ich mir den Kopf über hypothetische Szenarien zerbreche, anstatt mich auf das zu fokussieren, was mir vor der Nase liegt. Ironisch eigentlich, da ich mich in meinem professionellen Alltag auf theoretische Prinzipien stütze, für die nur relevant ist, was empirisch aufgezeigt werden kann – mir also vor der Nase liegt. Deshalb sammeln wir beispielsweise auch Daten in Videoform.


Wie gehst du mit der aktuellen Covid-19-Situation in deinem Alltag um?
Nie war es wichtiger, zusammen allein zu sein. Trotz aller Tragik ist Corona für die Wissenschaft jedoch ein Glücksfall. Unser Forschungsteam steht gerade vor einer historischen Herausforderung. Seit den Anfängen der Covid-19-Krise bin ich sehr busy und zusammen sammeln wir auf Hochtouren Videodaten von scheinbar banalen Alltagsaktivitäten, wie Schlangestehen oder Einkaufen. Alles auf Abstand natürlich.


Was bedeutet Solidarität für dich im Alltag, nicht nur zu Krisenzeiten?
Die Welt des Individuums ist immer eine soziale Welt. Die Erforschung sozialer Interaktion hebt hervor, inwiefern Solidarität ein Mikrophänomen alltäglicher Umgangsformen ist; Solidarität kann sich in klitzekleinen Gesten im Alltag zeigen, die gewichtige Konsequenzen für soziale und zwischenmenschliche Beziehungen haben. In Krisenzeiten ist das natürlich umso wichtiger und wird verdeutlicht.


Im Forschungsteam an der Uni Basel habt ihr im Zusammenhang mit der Coronavirus-Krise das Forschungsprojekt «Human Sociality in the Age of Covid-19 – How people (dis)engage in social interaction» lanciert. Weshalb?
Prof. Dr. Lorenza Mondada und ihre Forschungsgruppe an der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel gehören zur internationalen Spitze in der Erforschung sozialer Interaktion. Im Team sind Mizuki Koda, Julia Bänninger, Hanna Svensson, Burak Tekin, Philipp Hänggi, Sofian Bouaouina, Guillaume Gauthier und Laurent Camus. In unserer Forschungsarbeit interessieren wir uns für eine Vielzahl sozialer und kultureller Kontexte, wobei der Schwerpunkt sowohl auf Sprache als auch auf Körper liegt. Als die Covid-19-Krise auftauchte und sich konkretisierte, waren die Auswirkungen auf das Alltagsleben und insbesondere auf alltägliche Interaktionsformen sofort klar. Unser neunköpfiges Team beschloss, in den unsicheren Zeiten sehr reaktiv und proaktiv zu sein.



Die aktuelle vom Coronavirus hervorgerufene Krise hat weite Auswirkungen – nicht nur auf die Gesundheit, sondern auch auf die menschliche Gemeinschaft und Sozialität. Zwischenmenschliche Beziehungen im öffentlichen, beruflichen und familiären Raum verändern sich im Versuch, die Ausbreitung einzudämmen, aber auch aufgrund von Angst und Unsicherheit. Soziale Beziehungen und Begegnungen verändern sich in aussergewöhnlichen Krisen- oder Notsituationen sehr schnell. Sozialer Wandel ist normalerweise recht schwer zu erfassen; die Krise aber macht Veränderungen Tag für Tag beobachtbar und dokumentierbar. Wir finden uns in einer einmaligen Lage wieder und möchten deshalb genauer wissen, wie sich zwischenmenschliche Beziehungen – ob formell oder intim – zwischen Personen, die für ihre tägliche Arbeit und in ihrem Alltagsleben zusammenfinden, verändern.


Methodologisch basiert unsere Arbeit auf der Video-Dokumentation von Situationen aus dem realen Leben. Gefilmt wird mit der Einverständniserklärung der Teilnehmenden. Auf Basis dieser Video-Daten erarbeiten wir detaillierte Transkriptionen darüber, wie Sprache, Blick, Gestik, Körperhaltungen, Bewegungen etc. sich Sekunde für Sekunde entfalten, wie die Teilnehmenden aufeinander antworten, sich koordinieren und sich einander anpassen. Diese Transkriptionen erlauben eine präzise Analyse darüber, wie Sprache und Körper in sozialer Interaktion mobilisiert werden.



Wie verändert Covid-19 unseren Alltag bzw. die Gesellschaft?
In einem sozio-kulturellen Kontext, in dem Händeschütteln, Umarmen und Küssen routinierte Wege sind (oder waren), um eine Begegnung zu beginnen und miteinander in Kontakt zu treten, hat die aktuelle Situation die Notwendigkeit von Distanz und die Vermeidung von Körperkontakt geschaffen. Wenn eingefleischte Routinen von Eröffnungen und Begrüssungen verändert werden, wie beginnen Menschen stattdessen eine Begegnung? Der Handschlag kann beispielsweise durch ein Berühren der Ellenbogen oder Füsse, Luftküsse oder angedeutete Umarmungen ersetzt werden; Lieferdienste übergeben Bestellungen vermehrt kontaktlos und Shops reorganisieren ihre räumliche Architektur, um der Notwendigkeit von Distanz Folge zu leisten.




Mit «Social Distancing» ist eigentlich «Physical Distancing» gemeint. Was zieht das Phänomen für soziale Folgen mit sich?
Es ist sehr wichtig, «social distancing» und «physical distancing» zu unterscheiden. Der Ausdruck «social distancing» ist unglücklich, da physisch distanzierte Verhaltensformen zur Eindämmung der Übertragung zurzeit soziale Nähe bedeuten und moralisch geladen sind – Abstand als neuer Anstand quasi. Zum Beispiel sind Formen des Zusammenkommens zu Beginn einer Begegnung grundlegend, um Beziehungen zu schaffen, zu erkennen, (neu) zu verhandeln und zu stabilisieren. Die Krise hebt die Wichtigkeit von Begrüssungen hervor und hat spürbare Auswirkungen – es bleibt nur Leute zu fragen, die ihre Liebsten seit 5-6 Wochen nicht mehr umarmt haben. Begrüssungen werden zu etwas Risikobehaftetem; etwas, das ausgehandelt werden muss, und keine Routine mehr ist. «To hug or not to hug?» lässt sich beispielsweise auch in unseren Daten hören und sehen. Darüber hinaus unterstreichen kreative alternative Begrüssungsformen die Wichtigkeit der Eröffnungsphase einer Begegnung für Beziehungen. «Distance» ist nun einmal nicht alles; «social» sollte nicht mit «physical» verwechselt werden. Und Körper sind als wesentlich mehr als «physisch» zu betrachten.


Welche positiven Seiten hat das Leben in Zeiten von Covid-19? Welche negative Konsequenzen sind spürbar?
Aus unserer Perspektive ist Covid-19 faszinierend, da es die Selbstverständlichkeit der Komplexität des Alltagslebens offenbart. Vermeintlich triviale soziale Praktiken werden zu hochinteressanten Forschungsgegenständen, aufgezeigt z.B. in den kreativen Wegen, die Menschen finden um sich zu begrüssen. Die wachsende Solidarität unter den Leuten, die sich in verschiedensten Formen von Nachbarschaftshilfe und Altruismus zeigt, ist sicherlich auch ein erfreuliches Beiprodukt der Krise. Wir sind tief beeindruckt von den unzähligen Alltagsheld*innen, die sich bereit erklären, Risikogruppen zu assistieren. In unserem Videokorpus durften wir beispielsweise auch Helfer*innen mit Kamera und Mikrofon beim Einkaufen begleiten. Die negativen Aspekte der Krise sind in den sozialen Ungleichheiten, die Covid-19 verdeutlicht, zu beobachten. Angesichts des Virus sind einige Teile der Bevölkerung in einer viel besseren Position, um nicht krank zu werden, Zugang zu einer besseren Versorgung zu haben, ihren Arbeitsplatz zu behalten, Distancing auf angenehme Weise zu organisieren, die Risiken, die sie im Alltag eingehen, zu begrenzen, etc. Dies zeigt sich auch in den verschiedenen sozialen Gruppen, die sich tatsächlich im öffentlichen Raum bewegen (müssen).



#StayTheFuckHome – Was war deine Lieblingsbeschäftigung bevor du zuhause bleiben musstest, und welche ist es jetzt in Zeiten von Covid-19?
Ich habe das Glück, meine Isolation sehr angenehm gestalten zu können. Ich habe den Luxus, mich professionell sehr flexibel arrangieren zu können, und auch in meiner Freizeit kann ich einen Lockdown-angepassten Lebensstil führen, bei dem es mir nicht langweilig wird. So lese ich zurzeit viel und habe meine Xbox entstaubt, um mich spielerisch via Online-Videogames mit Freund*innen auszutauschen. Ich war also schon immer geübt in distanzierter Sozialität.


Wenn du dir etwas für die Menschheit wünschen könntest, was wäre das und weshalb?
Für mich und das Forschungsteam ist die Krisen- und Unsicherheitszeit auch eine Zeit zum Nachdenken. Obwohl wir gerade hyperaktiv sind und immer etwas los ist, nehmen wir uns auch Zeit für die kollektive Lektüre von philosophischen Texten. Runterfahren ist wichtig, und völlig OK in Zeiten einer Pandemie. Wenn sich jede*r die Zeit nehmen und sich Gedanken machen würde im Alltag, um nicht in Prä-Covid-19-Muster zurückzufallen, das wäre sicherlich toll für die Zukunft unseres Planeten und unser Zusammenleben.



Das schönste auf der Welt sind für dich?
Die gesehenen, aber unbemerkten «kleinen» Dinge des Alltags.

Wie wär's mal mit...
...distant socializing?


Vielen Dank an Philipp und das Forschungsteam von Prof. Dr. Lorenza Mondada für die spannenden Einblicke in soziale Interaktionen.


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von Ana Brankovic
am 04.05.2020


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© Ana Brankovic für Wie wär's mal mit
© Gruppenfoto: Nike Ossle



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