Urs Saurer: Im Gespräch mit dem Surprise-Verkäufer

Urs sitzt an einem runden, sonnengefluteten Tisch vor dem Café Zum Kuss in der Elisabethenanlage. Er trinkt einen Kaffee Crème und zeigt auf das zweiräumige Gebäude hinter uns. Ob ich wisse, dass das ursprünglich ein Totehüüsli war – eine Aufbahrungshalle. Er ist fasziniert vom Wandel der Zeit und von Gottesäckern. Auch die geologisch-historisch bedeutsamen Knochenfunde im St. Johanns-Park beschäftigen ihn.


Lieber Urs, wer bist du und was machst du?
Aufgewachsen bin ich im Berner Oberland auf einem kleinen Bauernhof bei Sigriswil. Da ging ich neun Jahre in die Primarschule und habe dann drei Jahre Autolackierer gelernt. Autolackierer ist mein Beruf. Dann aber habe ich aus gesundheitlichen Gründen aufgehört. Die Dämpfe der Lacke waren so stark, ich konnte fast nicht mehr durch die Nase atmen.

Wie ging es weiter?
Als nächstes habe ich auf dem Bau gearbeitet. Da schaffte ich viereinhalb Jahre als Fassadenmonteur. Als Montage-Chef kam ich in der ganzen Schweiz herum. Und jetzt mache ich am liebsten Gartenarbeiten. Zum Teil selbstständig oder vom Tagwerk Overall vermittelt. Früher hiess es Taglohn – man erhält jeden Tag den Lohn direkt ausbezahlt. Bei Overall haben wir keine Arbeitsverträge sondern Verträge über die Rahmenbedingungen. Wir dürfen keinen Alkohol trinken, man darf keine Drogen nehmen. Dass man im Areal drinnen kiffen kann ist auch eine Vereinbarung. Jeden Morgen gibt es Kaffee. Und man muss sich nicht abmelden. Wenn man nicht kommt, dann kommt man einfach nicht.

Overall hast du schon vor dem Interview erwähnt – kannst du mir das erklären?
Sie geben da den Leuten, die Drogenprobleme oder Alkoholprobleme haben – allgemein Suchtprobleme – die Möglichkeit, wieder ins Berufsleben zu kommen. Allerdings schätze ich, dass 95 Prozent nicht von dem Zeug wegkommen. Denen bietet Overall die Möglichkeit, dass sie zwei, drei, vier oder fünf Stunden pro Tag arbeiten können. Stundenweise. Auch bei der Kantine Borromeo, ein Overall-Projekt, gibt es dieses System. Da können solche Leute Gemüse rüsten oder Teller abwaschen. Schlecht gesagt: die Leute, die man sonst nirgends brauchen kann. Man kann ja nicht Leute, die im Heroin sind, acht oder neun Stunden auf dem Bau arbeiten lassen. Die würden ja eingehen. Und Overall, oder auch die Stadt, gibt ihnen die Möglichkeit, dass sie stundenweise arbeiten können.


Magst du dich noch erinnern, wie du vor Jahren zur Surprise gekommen bist?
Ja. Ein Freund – der ist leider gestorben vor zwei Jahren – hat mich gefragt, ob ich nicht zur Surprise kommen möchte. Mittlerweilen bin ich seit 19 Jahren dabei . Ich habe ihm damals gesagt: “Gut, ich mach das mal eine Woche oder zwei. Und dann schmeiss’ ich das wieder hin.” Doch es hat mir überraschenderweise zugesagt. Es gefällt mir, Gespräche zu führen mit der Kundschaft. Vor allem kann man gehen, wann man will. Es sagt dir niemand, dass du um 19 Uhr dort stehen musst. Man kann anfangen und aufhören, wann man will. Klar, bei sechs, sieben oder acht Arbeitsstunden, verkaufe ich natürlich mehr als jemand, der nur schnell eine Stunde da ist. Ich höre die neuen Verkäufer sagen: “Ja, komm, da mache ich schnell Geld in einer Stunde.” Und dann stehen sie dort und verkaufen nichts. Dann sagen sie: “Diesen Scheiss mache ich nicht mehr.” Sie haben das Gefühl, sie können schnell in einer Stunde zwanzig Hefte verkaufen. Dann hören sie wieder auf. Weil das Leben eben nicht so ist, wie es aussieht.

Manchmal arbeitest du acht Stunden am Bahnhofseingang. Dann hast du viel Zeit, um zu beobachten. Was fällt dir auf?
Was mir Sorgen macht, ist diese Bettelei. Die machen mehr Geld mit der Bettelei als wir, die korrekt die Surprise verkaufen. Und Betteln ist verboten. Die machen abartig viel Geld. Hinzu kommt, dass es meistens Drogenleute sind, die betteln. Ich habe dem Volk schon ein paar Mal gesagt: “Ihr unterstützt die, in ihrer Drogensucht.” Und dann sind sie auch noch stinkfrech: “Gibsch mr, gibsch mr”, anstatt höflich zu fragen “heiter mr”. Aber klar, die fragen so, weil sie süchtig sind, weil sie schon wieder Stoff brauchen. Dann werden sie aggressiver.



Ist das frustrierend für dich?
Das ist frustrierend, ja. Vor allem auch der, der da vor dem Bahnhof am Boden sitzt. Das Betteln ist verboten. Die Securitrans und die Polizei laufen vorbei und reden mit ihm. Aber sie sagen keinen Ton. Und wir von der Surprise haben drei Punkte am Bahnhof. Die werden uns von der SBB vorgeschrieben. Und die sind in der hintersten Ecke. Aber die Bettler sitzen beim Eingang. Das Securitrans-Personal sagt denen manchmal, dass es eigentlich nicht geht. Aber sie schicken sie nicht fort. Oder die Bettler stehen auf, gehen um die nächste Ecke und zehn Minuten später sind sie wieder da. Und uns stellen sie in die letzte Drecksecke. Da sieht uns ja nicht einmal die Kundschaft. Das ist doch keine Art und Weise.

Du arbeitest ehrlich und die Bettler nehmen eine Abkürzung?
Ja, ich kann das nicht machen. Ich kann doch nicht irgendwo stehen und die Leute anbetteln und nichts anbieten. Das kann ich gar nicht. Ich mache auch Strassenmusik.

Was spielst du?
Schweizerörgeli.

Wann hast du das letzte Mal gespielt?
Letzten Sommer. Damit mache ich viel mehr Geld als mit der Surprise. Ich bin viel in Luzern am Spielen. Da ist der Tourismus grösser. Luzern ist, vom Tourismus her gesehen, die bessere Stadt. Luzern ist volkstümlicher. Manchmal bin ich drei, vier Tage in Luzern. Dann nehme ich den Schlafsack mit.

Lieber Sonnen- oder Regentag?
Lieber Sonnentag. Gerade von der Musik her. Wenn es regnet, ist die Kundschaft gar nicht so gut gelaunt. Die Stimmung ist ganz anders, das merkt man. Sie laufen dann eher durch und zahlen nichts. Und ich spiele gerne draussen, das geht besser wenn die Sonne scheint.


Was gibt es sonst zum Bahnhof zu sagen?
Der Bahnhof ist nicht der beste Verkaufsplatz für die Surprise. Es zirkulieren zwar am meisten Leute hier, aber es ist eine grosse Hektik. Die Leute speeden auf den Zug, gehen auf das Tram. ‘Wuusch’ macht das. Fast niemand läuft hier normal durch. Beim Coop City am Marktplatz ist das ganz anders. Die Leute hier am Bahnhof sind hektisch.

Es hat mehr Leute hier, aber sie sind weniger aufmerksam?
Ja genau. Am auffälligsten sind diejenigen, die von den Ferien kommen – oder in die Ferien gehen. Die meisten laufen nicht normal. Die rennen um die Ecke herum, wenn sie gehen und wenn sie kommen. Ich sehe sie stressen, um in die Ferien zu gehen. Und von den Ferien zurück, stressen sie noch mehr (lacht). Ich habe mich schon oft gefragt, was das soll. Dort in der Ecke in der ich stehe, muss ich aufpassen, dass sie mir nicht über die Füsse fahren mit den Trolleys. Mit diesen Koffern. Die kommen gestresster zurück von den Ferien, als wenn sie gehen. Das sind die hektischen Leute hier. Und von diesen Leuten hat noch nie jemand ein Heft gekauft. Noch nie. Von denen mit den Koffern. Nicht einmal. Meine Überlegung ist, dass die doch ein Heft mitnehmen und das im Flieger lesen. Nichts. Aber eine Sau-Hektik. Das ist unglaublich.

Wenn du einen Tag mit jemandem Rollentausch machen könntest, mit wem würdest du tauschen?
Mit einem Wanderleiter. Ich habe früher auch Bergsteigen gemacht. Bei diesem schönen Wetter (schaut zum Himmel). Aber nicht mehr Kletterei, sondern nur noch Hochgebirgswanderungen möchte ich machen.


Du warst bei Telebasel und bei Aeschbacher. Auch die TagesWoche hat über dich geschrieben. Was ist dein Geheimnis?
Ja da bin ich auch schon gewesen. Schon oft war ich in den Medien. Letzten Sommer war ich mit der Coiffeuse bei Aeschbacher. Er hat sie eingeladen. Es gibt hier in Basel eine Coiffeuse, die schneidet einem alle zwei Wochen im Tageshaus an der Wallstrasse für fünf Franken die Haare. Ohne Coiffeur Salon. Sie geht der Kundschaft nach. Auch bei der Elisabethenkirche arbeitet sie, da sind aber die Preise etwas höher. Sie hat noch zwei kleine Kinder und sie muss irgendwie immer schauen, dass jemand zu diesen Kindern schaut.

Hast du auch Kinder?
Nein. Nein. Meine Freundin ist leider verstorben vor zwei Jahren. Sie war eine ganz Liebe.


Du wirkst sehr ruhig und gelassen.
Ja, aber das muss man im Prinzip ja auch sein um die Kundschaft herum. Man sollte keine Hektik aufbringen.

Findest du, mit der Ruhe kommt auch die Zufriedenheit?
Ja. Viel mehr. Und das ist bei den Wanderungen auch so. Man soll sie nicht mit einer Hektik durchziehen. Sonst siehst du ja nichts von der Natur. Du musst der Kundschaft auch ein bisschen die Blumen erklären. Irgendwo siehst du einen Vogel. Seltene Vögel. Da fällt mir ein, ich habe auch zwanzig Mal am Swissalpine Marathon in Davos mitgemacht. Der ist 87 Kilometer lang und geht auf 3000 Meter hoch. Meine Mutter – sie ist leider auch verstorben letztes Jahr – und mein Vater sind immer mitgekommen. Dann haben sie mich gefragt: “Wie sieht es aus auf so einem Pass oben?” Dann habe ich gesagt: “Das weiss ich doch nicht!” Man rennt einfach voll durch. Von der Natur siehst du nichts. Das ist hektisch. Dann haben sie mich gefragt, weshalb wir dann überhaupt gehen. Ich habe ihnen erklärt, dass wir auf Zeit laufen da. Du musst dich auf die Füsse konzentrieren, damit du dich nicht vertrittst auf den Steinen. Ich bin mindestens zehn Mal über den Sertigpass drüber. Aber ich habe keine Ahnung, wie es da oben aussieht.

Lebt dein Vater noch?
Nein, der ist ein halbes Jahr vor meiner Mutter gestorben. Die sind immer mitgekommen, die zwei. Dann haben sie gesagt: “Du bist nicht normal.” So habe ich geantwortet: “Ja, das ist schon nicht normal. Aber alle anderen sind auch nicht normal.”


Du wirst dieses Jahr 60 Jahre alt. Was bedeutet es für dich älter zu werden?
Ich denke schon an die Jugendzeit. Weil es ist schon eine schönere und bessere Zeit gewesen. Aber zurück möchte ich trotzdem nicht. Das Volk ist total anders geworden. Der Zusammenhang vom Volk ist anders geworden. Das ist eine ganz andere Zeit heute.

Wie hat sich der Zusammenhang verändert?
Wenn ich zum Beispiel mit jemandem reden möchte im Tram, dann realisieren sie es häufig gar nicht oder geben einfach keine Antwort. Oder sie sind mit ihrem Telefon beschäftigt. Gerade das Natel hat den Zusammenhang der Menschen total auseinandergebrochen. Die Leute stehen irgendwo mitten im Eingang und tippen auf dem Bildschirm herum: ’töggeltöggeltöggeltöggel’. Sie rollen mir mit aufgesetzten Kopfhörern über die Füsse mit dem Koffer. Oder sie gehen in den Coop und die Migros hinein und wissen nicht was einkaufen, ohne auf das Natel zu schauen. Früher hatte man das noch im Kopf. Da frage ich mich, wo das hinführt. Diese Technik. Eben der Zusammenhang von den Menschen geht dadurch verloren.

Soziale Kontakte? Könnte man auch sagen es wird kälter?
Ja. Ja. Das ist genau so. Bei der Overall bekommen wir am Morgen Kaffee. Die kommen am morgen hinein und sind die ganze Zeit am töggele. Hier noch ein Spiel, da noch ein Spiel. Die reden fast gar nicht mehr miteinander. Oder sie fragen drei, vier mal: “Was hast du gesagt?” – aber haben den Kopfhörer drinnen. Vor zwei Wochen waren zwei Frauen neben mir, beim Eingang am Bahnhof – da wo ich immer stehe. Sie haben telefoniert. Die eine ist links von mir gestanden. Und die andere ist rechts von mir gestanden. Die sind keine sechs Meter auseinander gestanden und ich in der Mitte. Die eine hat die andere gefragt, wo sie nun sei. Die andere hat gesagt, sie sei doch beim Eingang. Dann hat die andere gesagt, dass sie doch auch da sei. Das ist doch nicht normal (lacht).


Wieso hast du eine Jacke mit deinem Namen und deiner Nummer drauf?
Ich arbeite zum Teil an der Messe. Weihnachtsmarkt und Herbstmesse aufbauen. Und diese Jacke ist Werbung für Auf- und Abbau.

Hast du einen Traum?
Ja. Irgendwann möchte ich ins Ausland. Ich habe im Sinn, früher in die Pension zu gehen. Aber das kannst du ja nicht machen, wenn du teilweise vom Sozialgeld lebst. Sozialgeld zahlen sie dir nicht aus. Aber Pension schon. Und im Ausland lebt es sich wesentlich günstiger als hier – aber wesentlich besser.


Wie wärs mal mit...
...Auswandern und weg.

Weshalb wird dir das gelingen?
Ich bin anpassungsfähig. Unheimlich. Ich gehe auch gerne etwas machen, das ich noch gar nie gemacht habe. Ich bin ziemlich neugierig. Ich sage fast nie: “Das ist schlecht.” Ich sage nicht im Vorhinein: “Das ist schlecht und deshalb gehe ich nicht hin.” Eher sage ich: “Ja, ich gehe.” Oder ich gehe einfach nicht.

Vielen Dank, Urs Saurer, für das packende Interview. In seinen 19 Jahren hat Urs mehr als 10'000 Hefte verkauft. Wir wünschen ihm viel Erfolg beim Arbeiten und dem darauffolgenden Auswandern. Für Pendler und Fernfahrer: Nehmt euch Zeit am Bahnhof SBB, redet mit Urs und kauft ein Heft.


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von Timon Sutter
am 10.07.2017

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