Verein der Flaneure: Anouk Gyssler und Maja Bagat im Gespräch

"Städte sind lebendige Wesen, die täglich neue Geschichten erzählen." so lautet eine der Aussagen über die Aufführung im öffentlichen Raum Geschichten aus der Stadt: Einbruch. Ihr fragt euch welcher Stadt? Na, Basel natürlich. Und wo genau das Ganze? Matthäus-Quartier. Das interessante Kulturprojekt wurde vom Verein der Flaneure ins Leben gerufen und findet erstmals diesen Juni 2015 statt. Irgendwo an der Schnittstelle zwischen Literatur und Theater geht man im Matthäus-Quartier flanieren, bleibt auch mal länger stehen, beobachtet, besucht Nebenstrassen und vor allem: man erfährt spannende Geschichten. Wir haben mit den beiden Initiatorinnen Anouk Gyssler und Maja Bagat gesprochen und einen spannenden Einblick bekommen.


Liebe Anouk, Liebe Maja - Wie kamt ihr auf die Idee einen Verein der Flaneure zu gründen und weshalb in Basel?
Städte sind lebendige Wesen, die täglich neue Geschichten erzählen. Sie verändern sich, sie pulsieren, speichern Erinnerungen und sind Zeugen von Geschichten – und wenn man sie flanierend durchstreift, anstatt sie in aller Eile nur zu passieren, lassen sie einen teilhaben an ihren Erlebnissen. Der Flaneur als Spurenleser entdeckt Dinge, widmet sich diesen und übersetzt sie in Ästhetik.
Der Verein der Flaneure will zurück zu diesem aufmerksamen Flanieren und macht sich auf die Suche nach den Spuren von unerzählten Geschichten einer Stadt. Wir haben ihn 2014 gegründet, weil wir der allgemeinen Hektik, dem zielgerichteten Ansteuern von Orten und des zeitgleichen sich-Entrückens durch allerlei digitale Kanäle etwas entgegensetzen möchten. Wir zelebrieren das Spazieren, Flanieren und Entdecken im Moment und an Ort selbst. Wir möchten unseren Zuschauern einen Moment der Entschleunigung schenken und setzen uns dafür ein, dass Achtsamkeit im Lebensraum Stadt nicht einfach nur zu einer Floskel verkommt.



Wir bewegen uns seit bald 10 Jahren in Basel und fühlen uns hier wohl, somit rückt diese Stadt per se in unseren Fokus. Als aufmerksame Beobachterinnen setzen wir uns mit dem, was uns umgibt auseinander - vor der eigenen Haustüre anzufangen ist naheliegend. Zudem verändert sich hier sehr viel und es entstehen viele kulturelle Projekte, die sich mit der Stadt an sich beschäftigen.

Was sind eure Backgrounds und wie habt ihr euch kennengelernt?
Wir kennen uns seit ca. 14 Jahren - erstmals getroffen haben wir uns bei unseren ersten Gehversuchen im Theater in Aarau. Es folgte eine lange gemeinsame Studienzeit in Basel – Germanistik (beide), Geschichte (Anouk), Gesellschaftswissenschaften und Theaterwissenschaft (Maja). Zudem haben wir zusammen "Schreib für die Bühne!" besucht und mit einer Werkstattaufführung absolviert. Anouk hat in Aarau zwischen 2006 und 2010 das Format "Geschichten aus der Stadt" inszeniert, wobei im letzten Jahr Maja einen Text für die Inszenierung geschrieben hat. Um zwei Masterabschlüsse und viele Erfahrungen beim Theater reicher, fühlten wir uns endlich bereit, uns selbständig zu machen, "Der Verein der Flaneure" zu gründen und ein erstes gemeinsames Projekt zu realisieren.


Weggefährten - Was verbindet das Team?
Die Weggefährten sind alle auf ihre Weise mit Basel verbunden. Sie leben, arbeiten oder flanieren hier, es ist ihre Wahlheimat oder ihr ursprüngliches Zuhause, zu dem sie immer wieder zurückkehren. Ebenso sind sie mit Maja und Anouks Berufsbiographien verknüpft. Barbara Piatti (Jury) etwa war eine wichtige Dozentin für uns beide an der Uni Basel, weil sie uns gelehrt hat, in den zwei Feldern Literatur und Raum zu denken. Maja hat lange als Assistentin bei Martina Kuoni (Literaturspur) gearbeitet. Kathrin Veith (Schauspiel) hat bereits in Aarau bei "Geschichten aus der Stadt" mitgearbeitet. Robert Baranowski (Schauspiel) kennt Maja vom Jungen Schauspielhaus Zürich, ihre Wege kreuzten sich mehrmals und seit einigen Jahren lebt Robert selbst in Basel und ist hier in der Theaterszene aktiv. Heidi Schild (Schauspiel): Sie kommt ursprünglich aus Basel, mit ihr zusammengearbeitet haben wir aber in verschiedenen Theaterprojekten in Aarau – sie nun in ihre Heimat einzuladen, um hier zu spielen, ist uns eine grosse Ehre und Freude. Norwin Tharayil (Schauspiel) hat bei zahlreichen Performances in Basel mitgespielt, u.a. bei "Looking for Fritz", wo er bereits aktiv die Strassen der Stadt bespielt hat. Mit Daniela Hallauer (Sounds), einer wunderbaren Singer-Songwriterin sind wir schon so lange befreundet - wir wollten unbedingt, dass sie mit dabei ist, auch wenn sie nicht mehr in Basel wohnt. Alle Weggefährten sind begeisterte Beobachter, interessierte Menschen und v.a. hatten wir bei allen grosse Lust, mit ihnen zu arbeiten.

Achtsamkeit im Lebensraum einer Stadt - was bedeutet dies für euch?
Nicht nur von A nach B stressen, auf den Boden starren und Passanten ausweichen. Sich im Bus oder in der Tram nicht mit Kopfhörern von der Aussenwelt abkapseln. Stehen bleiben, ausatmen und beobachten. Manchmal eben doch durch die dunkle Gasse gehen, ein offenes Ohr und geschärfte Sinne für das, was uns umgibt, haben. Nach neuen Wegen suchen, Gewohnheiten durchbrechen.

In welchen Basler Nebenstrassen und versteckten Ecken treibt ihr euch privat gerne rum?
Anouk: Die Bärenfelserstrasse nehme ich erst wegen unserem Projekt wirklich wahr, ich würde sofort hier einziehen!
Ansonsten liebe ich es, auf dem Birsigviadukt anzuhalten, durchzuatmen und auf die Stadt zu blicken, auf die Silhouetten vom Münster und seinen Kollegen. Die heimliche Skyline von Basel ist aber der Bruderholzweg, vom Unteren Batterieweg her gesehen: Die gestochen scharfen Schatten der Spaziergänger sehen im Abendlicht aus, als würden sie auf einem schmalen Grat balancieren.
Grundsätzlich treibe ich mich gerne an der Peripherie der Urbanität herum: Etwa in der einen kleinen Bäckerei, ein Familienbetrieb, wo der hausgemachte Teigwarensalat mit den Appizeller Käsemöckli stolz „Libanesischer Salat“ genannt wird.



Maja: Ich bin hauptsächlich im Kleinbasel unterwegs, weil ich hier wohne. Gerne bin ich im Hafengebiet und geniesse die Weite - so auch auf der Dreirosenbrücke. An ersten warmen Sonnentagen, wenn sich die Strassen füllen, sich plötzlich alle Menschen in den Gassen breit machen, die Buvetten aufmachen - dann liebe ich Basel besonders. Es riecht gut.

Geschichten aus der Stadt: Einbruch ist euer erstes Projekt, welches vom 3. - 7. Juni 2015 dauert und im Basler Matthäus-Quartier stattfindet.
Wie kamt ihr auf das Thema Einbruch? Und weshalb im Basler Matthäusquartier?

Wir haben bewusst nach Begriffen gesucht, die sich unterschiedlich deuten lassen. Wir wollten ein Reizwort finden, das nicht zu weit aber auch nicht zu eng gefasst werden kann. Zudem war die Szenografie bald ein zusätzlicher Fokus: Wenn wir ein bestimmtes Reizwort finden, was bedeutet dies für den Umsetzungsort?
Matthäus: Wir wollten zuerst "vor der eigenen Türe" beginnen. Hier hatten wir Anknüpfungspunkte, Bekanntschaften, gute Kontakte. Wir wollten nicht mit unserer ersten Ausgabe an einem Ort beginnen, wo wir nicht wussten, wo anzufangen. Über die bestehenden Bekanntschaften haben sich aber dreimal mehr Bekanntschaften ergeben - und das Projekt wurde immer spannender. Gerade Theres Wernli von Stadtteilsekretariat Kleinbasel hat uns enorm geholfen.



Welche Basler Orte inspirieren euch in Sachen Storytelling?
Wenn man spaziert statt hetzt, findet sich überall Inspiration, wo sich Menschen tummeln. Oder wo Menschen sich getummelt haben - ihre Spuren zu lesen, verrät einem viel. Unser absoluter Favorit ist aber ganz klar der 30er Bus vom Bahnhof bis ins tiefste Kleinbasel: Da tummeln sich Selbstgespräche, Winzlinge mit riesigen Schulranzen hüpfen auf ihren Sitzen und geben Versatzstücke aus Gratiszeitungen von sich, Intimitäten werden in Telefone gebrüllt - Szenen, die nur die Realität inszenieren kann. Paradebeispiel ist auch das 8er Tram - damit fährt man durch mindestens 4 Welten.

Szenografie - Was erwartet uns in Sachen Kostüme und Ortschaften?
Einbruch: Wir bringen unsere Zuschauer an Orte, an die sie sonst nicht gelangen, an denen sie eher vorbeispazieren, die verborgen und unentdeckt bleiben. Mehr wollen wir nicht verraten - ausser dass sich unsere Szenografin Leonie Wienandts für eine geheimnisvolle Atmosphäre ins Zeug legt.

Woher kamen die Flaneurtexte für das Projekt?
Unter dem Reizwort „Einbruch“ haben wir im Januar eine Ausschreibung für Textbeiträge veröffentlicht. Die Ausschreibung wurde via Internetplattformen, in der Presse (bz Basel, RonOrp Basel) und via Mailverteiler grossflächig gestreut. Sie war auch als Aushang in Geschäften, Cafés, Bibliotheken und kulturellen Institutionen des Matthäus-Quartiers sowie der ganzen Region Basel präsent. Der
Begriff „Einbruch“ sollte - mit all seinen vieldeutigen Assoziationsmöglichkeiten und Facetten - als
Initialzünder für einen literarischen Text fungieren. Aus über 25 Einsendungen wählte eine Fachjury um Barbara Piatti (Literaturwissenschaftlerin, Expertin für Literatur und Raum), Martina Kuoni (Literaturwissenschaftlerin, literaturspur.ch) und den beiden Initiantinnen Maja Bagat und Anouk Gyssler sechs Texte aus.



Dabei lag uns die Intention, aktuellen und persönlichen Geschichten aus der eigenen – altbekannten oder noch etwas fremden – Stadt einen Raum geben zu können, sehr am Herzen. Die Textform spielte vorerst eine sekundäre Rolle. Indem die Bewohner Basels für und über ihre eigene Stadt schrieben, rückten die Betrachter und das Betrachtete näher, Gesichtspunkte, unter denen man Basel vielleicht noch nie gesehen hat, wurden klar.
Der Vorteil einer solchen Herangehensweise ist zudem, dass junge Nachwuchsautoren oder gar verborgene Talente die Möglichkeit erhalten, ihren Text an eine breitere Öffentlichkeit zu bringen sowie zu erfahren, wie es ist, ihren Text in Adaption einer Regisseurin zu sehen.


Kurz in 5 treffenden Stichworten - Wie kommt es zu so einem Projekt?
Inspiration – Beharrlichkeit – Geduld – Zusammenarbeit – Leidenschaft

Beschreibt die Atmosphäre, die ihr am Event schaffen wollt mit Zitaten, aus den von euch gewählten Flaneurgeschichten?
„In Basel rufe ich nicht über die Strasse, das mache ich hier nicht. Hier stehe ich still und schaue.“
- Michelle Steinbeck

„Das wird schon wieder, sagt der Wirt schon wieder, er verfolgt den Einbruch live von der Sonnenterrasse aus“
- Michael Mittag

„Unsere Nachbarin, die 80 Jahre in einer Zweizimmerwohnung im Erdgeschoss gewohnt hat, stirbt mit 95. Zu ihrem Andenken kommt einer ihrer Balkongartenzwerge endlich in den Garten, neben die Rosenhecke und aufs Grab meines Meerschweinchens.“
- Julia Rüegger

„ An den Wänden hängen Bilder in goldenen Bilderrahmen von süssen jungen Menschen; der Roiber muss viele Freunde haben. Schon bin ich eifersüchtig. Ich stehe vor den Bildern und versuche Fehler zu erkennen.“
- Michelle Steinbeck

„...aber weil es auch nicht schaden konnte, ein bisschen persönlich zu werden hinter dem Dönertresen, ein bisschen Lebensgefühl dazuzupacken zum Fladenbrot.“
- Barbara Lussi

„Nichts ist mit der preussischen Präzision, das Schwoobenland ist am verludern, und genauso kommt ihr in die Schweiz und macht do einen Larifaribetrieb draus! Adieu!“
- Micha de Roo


Weshalb sollte man sich den Event nicht entgehen lassen?
„Das muss ich sehen! Es ist mir eh zu wohl hier.“
- Michelle Steinbeck



Falls man nicht teilnehmen kann, werden Aufnahmen nachträglich online gestellt?
Ja! Die Arbeit von unseren Fotografen Gian Suhner und Céline Werdelis wird nach den Vorstellungen online zu sehen sein.

Gibt es Hörproben in Sachen Musik während der Aufführung?
Nein, im Vorfeld verraten wir noch nichts. Lasst euch überraschen von den Klanginstallationen von Daniela Hallauer. Vielleicht kann man sie nach den Vorstellungen auf unserer Website hören – wir werden sehen.

Und zu guter Letzt: Wie wär’s mal mit...
...Flanieren?


Wir danken Anouk und Maja herzlich für die wunderschönen Worte und bleiben gespannt, was uns für tolle Räubergeschichten im Matthäus-Quartier erwarten - mit ganz viel Liebe für die Basler Stadtkultur.



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von Ana Brankovic
am 25.05.2015


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